In Prag ist am 16, Februar Ing. Otakar Šourek gestorben, der international bekannte und geachtete Dvořák-Forscher und -biograph.
„Musica" hatte wenige Wochen vorher Gelegenheit, ihn aufzusuchen, worüber im Folgenden unser Mitarbeiter Dr. Fritz Oeser berichtet.


Der erste Eindruck von Prag nach vierzehn Jahren: in jedem Steine kulturträchtig und mit ihrer Strahlungskraft auch heute noch einen Umschlagsplatz zwischen West und Ost bildend, verzaubert diese Stadt den Besucher wie eh und je, und immer noch besonders stark mit ihrer Musik. Sogar im Kultusministerium sitzen — welch seltener Fall!— als Beamte angesehene Komponisten, Musiker, Musikwissenschaftler, und die 60-Jahr-Feier der Tschechischen Philharmonie ist fast ein Staatsakt. Diese Jubiläumsfeier gilt aber zugleich auch den Manen Anton Dvořáks; denn er hat vor sechzig Jahren mit eigenen Werken (die gleichen bilden das Programm des nunmehrigen Festkonzertes) den ruhmreichen Weg dieses unvergleichlichen Orchesters eingeleitet, und seine führenden Dirigenten, besonders der große Vaclav Talich, haben es an und zu Smetana und Dvořák erzogen.

So sprach mit Recht auf diesem Festakt auch der Mann, der auf seine Weise mit Dvořáks Werk enger verbunden ist, als irgend ein anderer. Otakar Šourek hat für Dvořák das bewirkt, was Chrysander für Händel, der Ritter von Köchel für Mozart, Max Auer für Bruckner getan haben: Nichtberufsmusiker wie sie, hat Šourek sich von einer großen Sache ergreifen lassen und ihr selbstlos ein Leben lang gedient, ein Mahnmal für eine Zeit, der eine solche Fähigkeit mehr und mehr verloren zu gehen scheint.

Der Sohn eines Goldarbeiters, am 1. Oktober 1883 in Prag geboren, hat zwar früh schon Klavierspielen gelernt und im Schulorchester das Waldhorn geblasen, wurde aber nicht Musiker, sondern Techniker, Hochbauingenieur, als solcher von 1907 bis 1933 im Prager Magistrat tätig. Dvořák hat er nicht mehr kennengelernt, nur Dvořáks Sohn studierte in Fortsetzung der väterlichen Begeisterung für Lokomotiven, mit Šourek zusammen an der Technischen Hochschule. Seltsamerweise geriet Šourek in den Bannkreis Dvořáks, weil die Bewohner des Zweivölker-Staates sich durchaus nicht einmütig an dem Besitz zweier großer schöpferischer Musiker erfreuten, sondern die Frage, ob Smetana oder Dvořák größer sei, mit ähnlicher Leidenschaft diskutierten, wie die Deutschen des vorigen Jahrhunderts ihr Weimarer Goethe-Schiller-Dioskurenpaar. Anläßlich der Aufstellung eines Dvořák-Denkmales kam es zu Beginn des Jahrhunderts darüber zu einer hitzigen Auseinandersetzung, die den jungen Ingenieur und nebenberuflichen Musikkritiker bewog, mit der Feder für Dvořák einzutreten.

Als 1910 der Direktor des Dvořák-Verlages Simrock in Prag nach einem Fachmann suchte, der für ihn ein Verzeichnis aller Dvořák-Werke zusammenstellen könnte, wurde er an diesen Außenseiter verwiesen und betraute ihn so mit einer Aufgabe, die auch für einen erfahrenen Fachmann meist erst auf der Höhe seiner Forscherarbeit lösbar ist. Die Aufgabe war einfacher als jene, die Ludwig von Köchel sich für Mozart gestellt hatte, weil die Ereignisse noch nahe und das Quellenmaterial greifbar waren. Sie war aber erschwert durch den Auftraggeber selbst, denn Simrock hatte die Opuszahlen und damit die Reihenfolge der Werke heillos durcheinander gebracht, weil er den Propagandawert von Novitäten durch hohe Opuszahlen kräftig steigern wollte. Šourek zeigte sich dem Problem gewachsen: durch eingehendes Quellenstudium stellte er die Entstehungszeit jedes Werkes fest und konnte so in einem chronologischen Teil seines thematischen Verzeichnisses erstmals ein Bild von Dvořáks Entwicklung vermitteln. Der zweite Teil gab einen systematischen Überblick nach gedruckten Werken mit Opuszahl, ohne Opuszahl und Ungedrucktem, wobei freilich damals manches wichtige Werk, so z. B. die 1. Symphonie c-Moll, als verschollen galt.

Der ganze Band erschien 1917 (Šourek schrieb das Nachwort im Garnisonshospital) und stellte eine ungewöhnliche Leistung dar. Denn hier hatte sich die Begeisterung des Liebhabers mit einer Akribie der Kleinarbeit gepaart, auf die jeder Fachwissenschaftler stolz sein würde — es wäre sehr zu wünschen, daß das längst vergriffene thematische Verzeichnis auf den neuesten Stand gebracht und neu gedruckt würde. Mit dieser Arbeit, Gesellenstück und Meisterwerk in einem, hatte Šourek sich selber gleichsam den Weg markiert, den er fortan zu schreiten hatte: nämlich das Skelett dieses Kataloges aufzufüllen und anhand der Werkfolge Gestalt und Leben „seines" Meisters lebendig erstehen zu lassen. Nach mancherlei Einzelstudien über die Orchestermusik und die Kammermusik begann er die Arbeit an der umfassenden Biographie des Meisters, die in vier Bänden (1923, 1928, 1930, 1933) erschien und die Grundlage der gesamten Dvořák-Literatur geworden ist. Aus den vier Bänden stellte Paul Stefan eine einbändige (sehr freie) deutsche Ausgabe zusammen, an deren Stelle heute Šoureks eigener und authentischer Extrakt in bisher fünf Sprachen getreten ist. Durch Briefausgaben (Dvořák an seine Freunde 1941,  Briefe an Hans Richter 1942, Briefe und Erinnerungen, zuerst 1938, jetzt neu aufgelegt) hat Šourek sein Hauptwerk abgerundet und zugleich begonnen, es für eine Neuauflage umzuarbeiten
1).

Die Arbeit fast eines Halbjahrhunderts hat ihre Früchte getragen, und es war Šourek vergönnt, sie noch zum wesentlichen Teile einzubringen. Auf seine Vorarbeit gestützt und unter seiner Leitung ging Dvořáks Heimatland daran, mit Ablauf der Schutzfrist im Jahre 1954 eine kritische Gesamtausgabe aller seiner Werke herauszubringen. Die Dvořák-Gesellschaft unter Šoureks Vorsitz; der Staatsverlag unter der Leitung von Šoureks langjährigem Freunde Vaclav Mikota, für dessen genossenschaftlichen Selbstverlag der tschechischen Komponisten Šourek schon in seinen Jugendjahren als Korrektor und Berater gearbeitet hatte; der neugegründete Artia-Verlag als Außenhandelsstelle aller tschechoslowakischen Verlage und Vertreter einer jüngeren, ebenso sachkundigen wie begeisterungsfähigen Generation: sie alle haben in gemeinsamer Arbeit bereits im ersten Jahre eine stattliche Reihe von Bänden veröffentlicht, die sich in der Sorgfalt der Herausgeberarbeit und der drucktechnischen Betreuung den anderen großen Leistungen der Musikwissenschaft und ihrer Verlage ebenbürtig zur Seite stellen.

So hat eine selbstlose Hingabe, gepaart mit gründlicher und unbeirrbarer Arbeit, Kreise ge­zogen und sich selber zum Kreis gerundet. Das war auch der eine starke Eindruck des Be­suches in Prag: den „großen, alten Mann" (groß war er, wirkte aber alles andere als alt) inmitten seiner alten und jungen Freunde und Mitarbeiter zu sehen und zu verspüren, wie hier die tschechische Musikkultur einen Kristallisationspunkt gefunden hat, der sich weiter auswirken wird. Ein sichtbares Zeichen dafür ist, daß Šourek sich zur Mitarbeit an der Dvořák-Ausgabe und zur Fortführung seines Lebenswerkes fast den gleichen Stab aus­gezeichneter Musikwissenschaftler herangeholt hat, dem auch die mustergültige Edition Smetanascher Opernpartituren zu verdanken ist.

So hat Šourek für die Zukunft der Dvořák-Ausgabe vorgesorgt, denn er gab sich nicht der Illusion hin, die Arbeit noch lange selbst fortführen zu können. Ohnedies geneigt, seine eigene Leistung nicht vordringlichen Gegenstand der Erörterung werden zu lassen, bot er, humorvoll-entsetzt über so viel Wißbegierde hinsichtlich seiner eigenen Person, den Anblick eines Mannes, der mit heiterer Gelassenheit weiß, daß er sein Tagewerk getan hat.

Das war der andere große Eindruck von seiner Persönlichkeit auf dieser Reise: der Abend in einer der heimeligen Weinstuben nahe der Moldau, das gute Gespräch mit ihm und seinen jungen Helfern, und die Erinnerung an die erste Begegnung, die so bezeichnend für den Menschen Šourek war. Statt einem unbekannten angehenden Musikwissenschaftler eifersüchtig den Einbruch in seinen Bezirk zu verwehren, schrieb er ihm freundlich, bahnte ihm die Wege und scheute sich nicht, den jungen „Kollegen" am Lazarettort aufzusuchen zu einer Zeit, da geistige und persönliche Bindungen den schwersten Zerreißproben ausgesetzt waren und ein Gefühl der Bitterkeit dem Manne, der sein Volk und sein Land liebte, jedem Deutschen gegenüber angestanden hätte. Ihm war es wesentlicher, zu spüren, daß es hier um eine gemeinsame Sache ging, und dreizehn Jahre später bereitete er dem Gast wiederum Freude, indem er Bücher mitbrachte: die eben erschienene chinesische Ausgabe seiner Biographie, und, als Kostbarkeit, Skizzenbücher Dvořáks mit der ersten Aufzeichnung der Symphonie „Aus der neuen Welt" und Rusalka-Einfällen.

So wie Šoureks Leben zuletzt, nachdem er die Lebensgefährtin verloren hatte und die Töchter verheiratet waren, Dvořáksche Züge angenommen hatte, mit einem stillen Dasein in Haus und Obstgarten, so hatte er mit seinem Meister auch die Klarheit und Gradlinigkeit, den Humor und die Güte gemeinsam.

Heute, da er plötzlich abberufen wurde, wiegt die Erinnerung an den letzten Abend mit diesem lauteren und verehrungswürdigen Menschen doppelt schwer. Wie vieles andere während der Prager Tage scheint dem Besucher jener Wiedersehens-Abschied aufzuzeigen, welche Möglichkeiten der Begegnung überhaupt es auch unter den schwierigsten, belastetsten Verhältnissen noch geben kann, wenn die Begegnung im Zeichen jener Haltung geschieht, in der Otakar Šourek sein Lebenswerk geschaffen hat.

Fritz Oeser (Musica X, 1956, 263ff)

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1) Zur Zeit lieferbare Bücher Otakar Šoureks: Antonin Dvořák, Sein Leben und Werk; Werkanalysen I, Orchesterwerke: Werkanalysen II, Kammermusik; Dvořák in Briefen und  Erinnerungen, alle bei Anis/Prag, Auslieferung durch Alkor-Edition/Kassel.