Bemerkungen zu einer Neuinszenierung in Wiesbaden 1957
Das Verhältnis zwischen dem Dichter und dem Komponisten der „Komödie für Musik" ist einer erneuten Betrachtung wert geworden, seit letzthin eine Bühne ankündigte, sie wolle Hofmannsthals „Rosenkavalier" als reine Sprechkomödie aufführen (was — unter anderem Vorzeichen — mit Pfitzners „Palestrina" unlängst schon geschah), und seit in der Neuauflage des Briefwechsels Strauss/Hofmannsthal ein bisher unbekannter Brief zugänglich wurde, in dem Hofmannsthal scharfe Kritik an einigen Partien der Straussschen Vertonung seines Buches übt. Sensationell ist diese Kritik nicht. Wenn sich, in einer Glücksstunde der Operngeschichte, zwei schöpferische Potenzen finden und wechselseitig steigern, so kann es nicht verwundern, daß sie sich auch aneinander gerieben haben und die Spannungen zwischen beider Wesensart im gemeinsam geschaffenen Werk spürbar geblieben sind. Wie sehr es Aufgabe der gegenwärtigen Interpretation, insbesondere der Inszenierung ist, diese Spannungen auszugleichen, wurde an der Wiesbadener Neuaufführung zur Eröffnung dieser Spielzeit offenbar.
Der lebendige Bühneneindruck gibt immer wieder Anlaß, den sicheren Blick des Komponisten Richard Strauss für die dramatische Linienführung im Großen zu bewundern. Sein Formgefühl empfindet mit Recht „zu stark gebrochene Linien" (etwa die feinere Steigerungskunst der Sprechkomödie) als Hindernisse für die schlagkräftige Entfaltung des dramatisch-musikalischen Geschehens, und so sind die auf Strauss'scbe Einwirkung zurückgehenden Umgestaltungen des 1. Aktes der „Arabella" (der 4. Band der Hofmannsthalschen „Lustspiele" enthält beide Fassungen) und des 2. Aktes vom „Rosenkavalier" für die Bühnenwirkung beider Opern von entscheidender Bedeutung geworden. Es läßt sich aber auch nicht überhören, daß bei der Ausgestaltung dieser Großformen der Komponist Strauss den Bühnenpraktiker häufig überrumpelt und bei Szenen und Figuren, die ihn weniger interessierten, am Anliegen des Dichters vorbei musiziert hat. Zweifellos muß man Hofmannsthal rechtgeben, wenn er die Vertonung der Szene nach der Verwundung des Ochs für mißlungen hält: ein „durchsichtiger Offenbachscher Stil" wäre der Bühnensituation gerechter geworden, als die „dicke" Musik von Strauß. Sicherlich verleiht diese Musik, wenn in ihrem üppigen Strome feinere Motivierungen des Dichters untergehen, den Gestalten auf anderer Ebene Umriß, Farbe, Tiefe und Leben. Aber die komödienhaften Züge zur vollen Geltung und damit die Absichten des Dichters und des Komponisten zur vollen Übereinstimmung zu bringen, wird immer Aufgabe der bühnenmäßigen Verwirklichung bleiben.
Friedrich Schramm, der Intendant des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, weithin bekannt durch seine Ausgestaltung der Wiesbadener Maifestspiele und seine eigenen Regiebeiträge dazu, hat das in ebenso seltenem wie beglückendem Maße erreicht. Häufig unterliegt der heutige Regisseur der Versuchung, das Werk gleichsam als Rohstoff für ein eigenes Stück anzusehen oder es zum Anschauungsmaterial für die Demonstration einer Stilidee zu machen, — dann entstehen jene Aufführungen, die zugleich als faszinierend und als „falsch", weil den Wesenskern des Kunstwerkes überfremdend, empfunden werden. Umgekehrt stehen fast alle „Rosenkavalier"-Inszenierungen so stark im Banne der Tradition Reinhard/Roller, daß meist nur Einzeleinfälle das Schema auflockern und die großen Wirkungen vom Orchester und von Einzelleistungen der Sänger ausgehen. Welche Intensität inneren und äußeren Lebens aber dem Stücke innewohnt, verspürt man erst, wenn es in seiner Ganzheit so aus der Dichtung heraus inszeniert wird wie hier; dann tritt Hofmannsthals einmalige Fähigkeit, ein schmerzlich-heiteres Spiel zwischen Menschenherzen mit allen schwebenden Nuancen zwischen Lächeln und Trauer und mit den Lichtern zarter Ironie zu entfalten, auch in der Musikkomödie zutage.
Kein Regisseur kann verhindern, daß das Strausssche Orchester („zu polyphon, zu unruhig figuriert", wie er selber schreibt) viele Feinheiten der Dialogführung zunichte macht (so z. B. den köstlichen Klageruf des Ochs nach seiner Verwundung „Ich kann ein jedes Blut mit Ruhe fließen sehen, nur bloß das meinig' nicht"). Gibt es dazu noch Lücken in der Handlungsführung, so muß die mimische Gebärde dem Wort und dem Ton ebenbürtig zur Seite treten. Durch eine Kürzung, zu der Strauss den Librettisten in allzugroßem Vertrauen auf die Phantasie des Zuschauers bewog, ist der Frontwechsel der beiden Intriganten Valzacchi von Ochs zu Oktavian unverständlich geworden. Das vorzügliche Bühnenbild des zweiten Akts, das Schramm sich bauen ließ - hinter dem Empfangssalon kann man über die ganze Breite der
Bühne Vorsaal und Treppenhaus einsehen — ermöglicht es ihm, diesen Frontwechsel sichtbar zu motivieren: wenn Oktavian vor seinem Abgang den Italienern einen Wink gibt, mit ihnen
im Treppenhaus verhandelt, und später von ebendort Annina mit dem Briefe „Mariandls" zurückkehrt, ist der Zusammenhang deutlich und der dritte Akt klar exponiert. Gleichzeitig wird damit dem gefährlichen Nachlassen der musikalischen und dramatischen Spannung in der Vordergrundshandlung zwischen Faninal und Ochs entgegengewirkt.
Die Wahl des dramaturgischen „Ortes" für diese Pantomime ist von Bedeutung. Denn mimische Nebenhandlungen, große und kleine, motivierte und unmotivierte, sind die crux unserer gängigen Inszenierungen komischer Opern geworden, und der komödiantische Spieltrieb treibt bei Regisseuren und Darstellern, vielleicht unter dem Einfluß des Filmgags, häufig
so seltsame Blüten, daß im Hauptgeschehen die Einheit von Wort, Ton und Gebärde verloren geht.
Friedrich Schramm hat ein viel zu ausgeprägtes Empfinden für das Wesenselement der Musik, als daß es ihm in den Sinn käme, die dramatische Wirkung des gesungenen Wortes, des Orchesterzwischenspieles oder auch nur der Pause ohne Not durch solche Nebenhandlungen oder durch mimische Sondereffekte eigener Provenienz zu gefährden.
So ereignet sich beim „Rosenkavalier" das Paradoxe und doch eigentlich Selbstverständliche, daß dem Stück der Hofmannsthalsche Geist, die Valeurs, die Halbtöne zurückgegeben werden mit mimischen Mitteln, die aus der Musik von Richard Strauß entwickelt sind: Oktavian, von der Marschallin zurückgewiesen, wendet sich zum Gehen —
doch so wie die Geigensynkopen unentschieden zwischen A-Dur und E-Dur pendeln, verharrt er noch einen winzigen Augenblick, einen Schicksalsaugenblick, hoffend, daß man ihn zurückrufe, und die Pizzicatobässe werden zu bangem Klopfen des Herzens. Im zweiten Akt führt bei der Überreichung der Silberrose eine Halbkadenz von Fis-Dur nach Es-Dur
da schaut Oktavian auf, und er und Sophie sehen sich in die Augen, erblicken einander zum ersten Male, — so geschieht innerhalb der formstrengen Zeremonie das Hofmannstlialsche Urerlebnis des Sicbbegegnens, Sicherkennens, Sichverwandeins, und Sophies Worte „Ist wie ein Gruß vom Himmel" gewinnen angesichts dieser staunenden Entdeckung des Du einen zweiten, ergreifenden Sinn.
Gleiches erfolgt innerhalb der großformalen Zusammenhänge. Hofmannsthal bewirkt die Steigerung auf das Erscheinen des Rosenkavaliers zu durch die bildhaften Beschreibungen, mit denen die Leitmetzerin kontrastierend Sophies Gebet unterbricht, und der Höhepunkt wird wie ein Gemälde beschrieben: Oktavian, hinter ihm seine Dienerschaft, die Lakaien, Haiducken usw. Die Musik spült alle diese Wortbilder hinweg und setzt an ihre Stelle die rein musikalisch-emotionale Steigerung, schneidet aber mit ihrem Höhepunkt (Beckenschlag) alle Bewegung ab, so daß eine choreographische Entfaltung des Gefolges hinter Oktavian nicht mehr möglich ist.
Schramm benutzt die erwähnte Aufgliederung des Bühnenraumes, um die dynamische Steigerungswelle der Musik, ihr Accelerando, ihre emporschießenden Geigenläufe in Bewegung umzusetzen: das Hausgesinde läuft, durch die Rofrano-Rufe angelockt, durch den Vorsaal an die Fenster, die Lakaien beziehen Stellung an der Tür, mit den Schlußfanfaren eilen Haiducken und Lauffer herein und postieren sich frontal, und Oktavian, zuletzt und genau mit dem Fis-Dur-Akkord erscheinend und verharrend, füllt zentral das Bild, — so sind die Hofmannsthalsche und die Straußsche Konzeption in Kongruenz gebracht. Analog erfolgt der Abbau der Szene, mit einem Einzelzug, der besonders schön dem von Hofmannsthal so geliebten Zeremoniell gerecht wird, aber auch den inneren Kern dieser Begegnung bloßlegt: mit der Schlußkadenz der Hörner
heben die Haiducken langsam die waagerecht gehaltenen Krummsäbel zum Gruß empor, bevor sie geräuschlos den Saal verlassen, — das wird der Form gerecht, rundet ab und ist zugleich, auf überrationaler Ebene, so etwas wie eine ergriffene Huldigung vor dem Zauber der Jugend und Schönheit.
Wie die Vorgänge erhalten auch die Gestalten Profil, selbst die Randfiguren. Es ist ein Muster von Komik feinster Art, wie in der anschließenden Konversationsszene die Duenna mit einem leichten Kopfnicken oder mit einem Hochziehen der Augenbrauen das Gespräch ihrer Schützlinge zu lenken sucht. Nichts ist outriert: Ochs, häufig zum Bauernlümmel degradiert, erscheint, wie er von Dichter und Komponist gewollt ist. Von der lässigen Eleganz seiner Anfangsreverenz an stört kein einziger possenhafter Zug die (durchaus vollsaftige) Charakterzeichnung oder den Komödienton des Ganzen, und Geist vom Geiste Hofmannsthals zeigt sich darin, wie die Gestalt am Ende des dritten Aktes für einen Augenblick ins Tragikomische wächst: alle Pläne sind zerronnen, sind „mit dieser Stund' vorbei", — da ist eine Stille um ihn wie um den Falstaff am Ende von „Heinrich IV.", als der fröhliche Zechkumpan des Prinzen, vom König verstoßen, auf einmal zum müden, alten Manne wird.
Die Marschallin bekommt schalkhafte Züge, so das leise Lachen, mit dem sie in der Anfangsszene sich beinahe mit dem „Einmal . . ." verplappert oder dem Ochs „Migräne" vortäuscht. Aber diejenigen ihrer Worte, die nach Oktavians Vorwurf einem Pater zustünden, sind ernst genommen; die Tiefe des Wesens, der sie entspringen, tritt dann voll heraus in dem letzten, schwer errungenen „In Gottes Namen", dem Hofmannsthal schon in „Cristinas Heimreise" beinahe leitmotivische Bedeutung gab. Wieder aber bilden alle Einzelzüge ein Gewebe, über das sich ein doppelter Formbogen wölbt. So wie Schramm der Hofmannsthalschen Schlußarabeske des kleinen Mohren einen betonteren Akzent gibt dadurch, daß sein erstes Auftreten zu einem kleinen zärtlichen Spiel zwischen der Marschallin und ihm ausgestaltet ist, zu einem Spiel wie mit einem eigenen Kinde —, so schlägt er auch, der Rückereuerung der Musik folgend, einen Bogen über das Geschehen zwischen der Marschallin und Oktavian, wie es der Schluß des ersten und der des dritten Aktes fixiert. Ist dort in den Worten der Frau und in den Augen des Jungen zu lesen, daß das große, das überwältigende Erlebnis der Liebesvereinigung zu Ende gehe und nichts von ihm bleibe als die Erinnerung und, vielleicht, eine Spazierfahrt in den Prater, so scheinen hier, wenn die gleiche süße E-Dur-Melodie erklingt, beide jenes Augenblicks zu gedenken: die Marschallin wendet sich an der Tür einen Atemzug lang zu Oktavian zurück, und mit einem Schauer weiß man: einen Atemzug lang spürt der junge Mensch, daß jetzt das Beste seines Lebens von ihm geht.
So ergeben in dieser Aufführung Musik und Gebärde zusammen ein untrennbares Ganzes im Dienste der Dichtung, und da kein werkfremder interpretatorischer Gestaltungswille sich in diese Bezüge hineindrängt, vielmehr ein ebenso tiefes wie waches Verstehen sie freilegt und wirken läßt, enthüllt und erfüllt sich das Kunstwerk so rein, wie es, nach Hofmannsthals Wort, „auf Kontraste und über den Kontrasten auf Harmonie des Ganzen angelegt" ist.
Fritz Oeser (Musica XI, 1957, 3ff)
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