Ende Oktober 1958 wird gleichzeitig in Brunn und Stuttgart eine Oper von Leos Janáček, „Osud (Fatum)", „Schicksal" benannt, zum ersten Male aufgeführt. Damit gelangt ein Halbjahrhundert nach seiner Entstehung ein Werk auf die Bühne, an dem sich von Anfang an sein rätselvoller Titel zu rächen schien. Jugendsünden oder farblose Nachlaßkompositionen geraten leicht und zu Recht in Vergessenheit. „Schicksal" ist keines von beiden, sondern das reife Werk eines reifen Meisters, geschrieben im Anschluß an den Welterfolg „Jenufa", von seinem Schöpfer so hoch eingeschätzt, daß er sogar eine Klage gegen die Bühne einleitete, die trotz vertraglicher Aufführungsverpflichtung die Partitur sieben Jahre lang in ihrem Archiv verstauben ließ. Dieser Schicksalsoper ist es zum Verhängnis geworden, daß sie allzu persönlich, nämlich
als musikalischer Schlüsselroman, konzipiert war und ihr Dichterkomponist über der Selbstenthüllung die theatergerechte Formung des Stoffes vernachlässigt hatte.
Während der Sommerferien des Jahres 1903 lernte Janáček im Kurbad Luhatschowitz Kamila Urválková, die Gattin eines Forstverwalters aus Südböhmen, kennen. Die junge Frau ließ ihm, der in Trauer um den Tod seiner Tochter einsam an seinem Tische saß, mitfühlend drei Rosen überbringen, und in rascher Vertrautheit erzählte sie ihm die Geschichte ihres Lebens: sie war mit einem Komponisten, dem nachmaligen Prager Operndirigenten Čelanský verlobt gewesen; als sie auf Wunsch der Eltern einen vermögenderen Mann heiratete, hatte er sich dadurch an ihr gerächt, daß er sie in einem (1897 in Prag zur Uraufführung gelangten) Operneinakter mit dem Titel „Kamila" als treulos flatterhafte Kokette bloßstellte. Es gelang der schönen Frau, den rasch entflammten Janáček zu überzeugen, daß man ihr Unrecht getan hätte, und ebenso ritterlich wie galant versprach er ihr, sie als Heldin einer neuen Oper "Stern von Luhatschowitz" zu rehabilitieren. Dies Versprechen hielt er, wenn auch schließlich weder die „Mila" seiner Oper (von Kamila) völlig gerechtfertigt noch sein „Lensky (von Čelanský) durchweg verdammt wurden. Eine groteske Laune jenes Schicksals, das Janáček im endgültigen Titel apostrophierte, wollte es, daß ausgerechnet Kapellmeister Čelanský die Opempartitur zur Aufführung an seiner Bühne anforderte, wobei bis heute nicht geklärt ist, ob er sich darin wiedererkannte und vielleicht deshalb das Werk sieben Jahre begraben lag. Viel spater wurde Janáček von neuem an das fast vergessene Opus erinnert, als ihm 1917 abermals in Luhatschowitz die Begegnung mit einer anderen Kamila widerfuhr. Diesmal wurde sie für sein Leben entscheidend: mit Kamila Stosselova fühlte er sich bis an sein Lebensende verbunden, und nahezu alle seine späteren Werke sind aus der inneren Hochspannung geboren, die die Folge einer unerfüllt brennenden Liebe zu dieser Frau war.
Jahre 1903 stürzte sich Janáček mit solcher Vehemenz auf die Ausführung seines Opemplans, daß man daraus Rückschlüsse auf das Ausmaß seiner Verzauberung ziehen kann. Noch zwanzig Jahre später erinnerte er sich:
„Sie war eine der allerschönsten Frauen. Ihre Stimme war die einer Viola d'amour. Die Luhatschowitzer Salzquelle lag in der Glut der Augustsonne.
Warum erschien sie mit drei feurigen Rosen, und warum erzählte sie mir den Roman ihrer Jugend? Und warum war sein Ende so seltsam? Warum verschwand ihr Geliebter, als hätte ihn der Boden verschlungen? Warum ist der Taktstock für einen anderen eher ein Dolch?"
Mag er als Mensch überwältigt gewesen sein: der Künstler in ihm erkannte doch gleich die Möglichkeiten, die ihm hier das Leben selber als Stoff zutrug. Es muß den Realisten Janáček, der seine musikalischen Einfalle dem Tonfall der Alltagsrede ablauschte, gereizt haben, nach der bäuerischen „Jenufa" sich mit der Schilderung mondänen Kurbetriebes ein neues Kolorit zu erobern, und in der Tat zeichnet der erste Entwurf durch eine Fülle von Episodenfiguren das Milieu von Luhatschowitz mit naturalistischer Genauigkeit. Die Erinnerung an den kurz zuvor gehörten „roman musical" „Louise" des Franzosen Charpentier mag ihn gelockt haben, ebenfalls selber den Prosatext zu einer musikalischen „Novelle" (so der ursprüngliche Untertitel) oder zu „Romanfragmenten aus dem Leben" (endgültige Kennzeichnung) zu schreiben. Auf der anderen Seite kamen hier von außen Fragen auf ihn zu, die ihn ohnedies bewegten: warum wird der „Taktstock zum Dolch", warum kann die Kunst, insbesondere der schöpferische Impuls, das Leben aussaugen und zerstören, wie vertragen sich Schaffensrausch und Schaffensmühen mit dem Füreinandersein in der Zweisamkeit? Was wird aus dem Menschen, der Kunst und Leben schonungslos miteinander verquickt, und wie geht eine Geschichte aus, ähnlich der, die Kamila erzählte, wenn sie bis zum Ende durchgelebt wird?
Janáčeks eigenes Erlebnis mit Frau Urválková war bald abgeschlossen. Nachdem er noch das Ehepaar in dessen Heimat besucht hatte, stellte er auf Ersuchen des Gatten den intensiven Briefwechsel mit Kamila ein, und als die Urváleks seiner Einladung zur Brünner „Jenufa"-Premiere nicht Folge leisteten, erlosch sein persönliches Interesse an seiner Opernheldin so weit, daß es auf die Handlungsführung seines Librettos abfärbte; „Das Sckicksa! der Frau Mila ist de facto besiegelt — man braucht es weiterhin weder zu sehen noch zu hören, das denkt sich jeder selbst zu Ende." Da er nun Frau Urválková mit nüchternen Augen betrachtete, identifizierte er sich zusehends stärker mit dem Gegenspieler seiner Mila. Er nennt ihn Živný, und wenn nun dieser als Autor einer Oper vorgestellt wird, deren Hauptfigur Lensky heißt, so wird jetzt weniger die Kränkung betont, die er mit ihr der Geliebten zufügte, als die Sorge um die rechte Vollendung des Geschaffenen. Der neunundvierzigjährige Komponist und Lehrer Janáček, der neun Jahre an seiner „Jenufa" gearbeitet hatte, schildert seinen Živný als zweiundvierzigjährigen Komponisten und Lehrer, der um sein Werk und seine Anerkennung ringt. Seine Musik wird als schwerblütig und unverständlich, sein Charakter als heftig und leicht entzündlich gekennzeichnet, und wie Musik und Charakter von der Umwelt aufgenommen werden, demonstriert Janáček an Bühnenspiegelungen seiner Brünner Orgelschule und des geliebten Luhatschowitz. Verlieren sich aber Živný und Mila in Erinnerungen an glückliche Zeiten, so werden unverkennbar Janáčeks Erinnerungen lebendig an „diese ersten träumerischen Blicke, die sich in die Seele wie in die Dämmerung stehlen: jäh leuchtet es in ihnen auf, und niemand und nichts kann es ihnen verwehren ..."
Freilich wurde Janáček sich immer mehr des Dilemmas bewußt, in das er sich dadurch gebracht hatte, daß er seine Handlung „dem Leben" entnahm. Bis zur Werkmitte gab sie genau die wirklichen Geschehnisse wieder. Janáček verfaßte den Prosa-Entwurf, und die junge Schullehrerin F. Bartošová brachte ihn in Verse nach dem Muster von Puschkin/Tschaikowskys „Eugen Onegin". Noch ehe Klarheit über die Fortführung der Fabel gewonnen war, begann Janáček die Komposition und beendete den 1.Akt nach nur vier Monaten. Je mehr aber in der musikalischen Ausgestaltungsein elementarer dramatischer Sinn zum Durchbruch kam, desto notwendiger erschienen ihm einschneidende Abänderungen 1. Durch Reduzierung der Randepisoden und Einführung einer neuen Kontrastfigur (Milas Mutter) suchte er das dramatische Geschehen zu intensivieren und dem Übermaß von Gefühlsausbrüchen eine tragende Handlung beizugeben. Im Endergebnis wickelte sich diese in drei Stationen ab:
1. Akt: Živný trifft im Kurbad Mila wieder, die ihn früher verlassen hatte. Zum Kummer ihrer
Mutter folgt sie ihm abermals, in eine Ungewisse Zukunft.
2. Akt: 6 Jahre später: Živný, mit Mila und beider Kind nun im eigenen Heim, bemüht sich vergeblich, von dem ihr mit seiner Oper zugefügten Unrecht loszukommen. Er verliert sie, — die wahnsinnig gewordene Mutter reißt sie in den Tod.
3. Akt: 10 Jahre später: kurz vor der Aufführung seines Opernfragmentes enthüllt Živný vor
seinen Schülern und seinem Sohn sein Versagen und zerbricht an der Erinnerung.
Aus dem dürftigen Schema läßt sich nur der Schluß ziehen, daß die Oper in dieser Gestalt nicht auf der Bühne bestehen kann, weil aneinandergereihten Romanfragmenten die dramatische Spannung ermangeln muß. Also ein hoffnungsloser Fall? Das Ohr weiß es besser als das Auge: hört man das Werk (eine Aufnahme des Brünner Rundfunks ermöglicht es), dann erstehen vor dem geistigen Auge aus dem heißen Atem von Janáčeks durch und durch inspirierter, in jeder Note dramatischer Musik Gestalten von blutvollstem Leben, Konflikte von wirklicher Tragik, Szenen, die unmittelbar ergreifen, Partien, die zur komödiantischen Ausdeutung reizen, kurz, ein musikdramatisches Gewebe, das nur darauf zu warten scheint, daß sich ihm das rechte Wort zugeselle und ein festes dramaturgisches Gehäuse ihm die Möglichkeit zur vollen Entfaltung gebe. Wie wenig das Libretto der Musik genügen konnte, hat Janáček selbst empfunden, und noch 1917 versuchte er, freilich erfolglos, seinen Übersetzer Max Brod für eine Umarbeitung zu gewinnen. Autobiographische Bezüge eines Opernsujets haben ihren Reh für den Historiker; für die dramatische Wirkung von der Bühne herunter sind sie ohne Belang, die Gestalt dort oben muß aus sich selber Leben haben, und das gewinnt sie nur aus den Spannungsverhältnissen innerhalb des Stoffes und seiner Formung.
Sollte das Werk dem Theater gewonnen werden, so war eine ungewöhnlich schwierige Aufgabe gestellt: die dramaturgische Neugestaltung mußte der Oper zu einer maximalen Bühnenwirkung verhelfen, ohne ihren Bekenntnischarakter zu verwässern und ohne der Partitur Gewalt anzutun. Folgerichtig ging deshalb der deutsche Bearbeiter Kurt Honolka von der Partitur aus und stimmte die Handlung auf die äußerst konzentrierte Musik ab. Den Weg, den Janáček schon beschritten hatte — Rankenwerk des Librettos zugunsten der Hauptfabel zu beschneiden, die Diktion nüchterner und psychologisch genauer zu halten, dramatische Aktionen und Stimmungsmomence ökonomischer zu verteilen—, ging er zu Ende. Nebenfiguren wurden zusammengezogen,bloße Episoden (etwa das Sonne-Lied der Ausflügler im 1. Akt) mit der Handlung verknüpft, andere (die Gesangsprobe der Schülerinnen) in den 2. Akt verlegt und dort als kontrastierende Klangfolie für die Haupthandlung benutzt. So gelangte er zu einer glaubhafteren Personencharakteristik, wobei die Interpretation der musikalischen Affektgehalte eine besondere Rolle spielte. Mußten zugunsten der dramaturgischen Neuordnung gelegentlich einzelne Gesangsstellen anderen Personen zugewiesen werden, so wurde Janáčeks Deklamation auch in rhythmischer Hinsicht mit peinlicher Treue gewahrt. Ohne musikalisch etwas zuzusetzen oder wegzulassen, ohne Transpositionen oder Modulationen erreichte Honolka durch nur vier Umstellungen und vier Wiederholungen geschlossener Musikperioden oder ganzer Szenen sein Hauptziel: der ganzen Oper eine wirklich dramatische Form zu geben.
Den 1. Akt stellt er unter den Druck nahender Entscheidung. Das bunte Treiben im Badeort gilt jetzt Milas Hochzeit mit einem vermögenden Grundbesitzer, den die Mutter ihr zugedacht hat, nachdem es ihr gelungen war, sie von Živný zu trennen. Angesichts der wenigen Stunden, die Mila für eine Wahl zwischen Hochzeit und Flucht noch zur Verfügung stehen, erhält ihre Wiederbegegnung mit dem noch immer geliebten Manne eine besondere Intensität, und die Gestalten von Živný, Mila und ihrer Mutter bekommen schon dadurch schärfere Umrisse, daß sie mit einem Gegenspieler, eben dem Bräutigam Konecnšý, konstrastiert werden. Ohne es zu wissen, hat Honolka hier Janáčeksche Motive aus früheren Fassungen des Librettos aufgegriffen. Das Gleiche gilt von der entscheidenden Maßnahme, durch die er das Handlungsgeschehen verklammert: er gliedert es in Haupt- und Rahmenhandlung, indem er den 3. Akt zerlegt und Vorspiel nebst Nachspiel daraus gewinnt. Janáček hatte vorübergehend erwogen, die Oper mit dem 3. Akt beginnen zu lassen. In ihm erzählt der ergraute Živný rückblickend seinen Schülern das Schicksal seines Opernhelden Lensky und enthüllt dabei immer deutlicher, daß er von sich selber spricht — die beiden folgenden Akte hätten dann dargestellt, was er zu berichten begonnen hatte. In Honolkas Einrichtung ist dieser Plan insofern konsequent durchgeführt, als durch die Aufteilung des 3. Aktes der Schluß der Oper auf den Anfang zurückgreift und damit das Geschick des erzählenden Živný zu Ende geführt werden kann. So sind nun in die Rahmenhandlung der 1. und 2. Akt (jener in Luhatschowitz sechs Jahre vorher, dieser in Živnýs Prager Wohnung am Nachmittag vorher spielend) als Rückblenden eingefügt. Erst dadurch, erst durch das Prisma der Erinnerung Živnýs gesehen, gewinnen die Angelpunkte des Hauptgeschehens, das Wiederfinden und die endgültige Trennung durch die Katastrophe, jene eigentümlich verschleierte Tönung, die der Musik eigen ist. Die ganze Oper aber erhält nun die Form, die Janáček, dem Verehrer der russischen Dramatik und Epik, sehr viel bedeutete und in „Jenufa", „Katja Kabanowa", „Totenhaus" eindrucksvolle Höhepunkte schafft: die der großen öffentlichen Beichte.
Durch diese Umstellung beginnt das musikalische Drama mit einer „Oper in der Oper", nämlich mit der Bühnenprobe von Živnýs Opernfragment (der Schluß liegt in Händen Gottes und bleibt auch darin", so hat, wie die Sänger vom Kapellmeister erfahren, sich der Komponist geäußert).
In einer großartigen Expositionsszene, einer Meisterleistung des Musikdramatikers Janáček, schält sich aus dem bald gehässigen, bald betretenen Gerede des Theatervölkchens ein Bild Živnýs heraus, noch bevor er selber eintritt, und wenn er dann da ist, so enthüllt sich in Reden und Schweigen, in Bewegung und Handlung, in gegenwärtiger Selbstentblößung und visionärer Rückerinnerung der Kern des Stückes: die Tragödie des schaffenden Menschen, der vergeblich zugleich bedingungslos lieben möchte. Zweimal gibt das Schicksal Živný die Chance, an einem liebenden Wesen zum Ausgleich seiner Kräfte zu gelangen. Beide Male scheitert er, weil ihm der Schaffensdrang zu einer Schaffensgier wird, die die menschlichen Gefühle zum Rohmaterial für die Kunst herabwürdigt, und seine Liebe wird heillos, weil sie dieser Entwertung wegen der Gegenliebe nicht mehr sicher sein kann. Mila wiederum erscheint nun als warm und tief empfindender Mensch, der von der größeren Lebensintensität des älteren Mannes angezogen wird, ohne ihm zum wirklichen Ruhen in sich selbst verhelfen zu können. Sie verläßt ihn, und weil ihr auch nach der Rückkehr zu ihm nicht gelingt, die Schatten des Vergangenen zu verscheuchen, wirkt ihr jäher Tod wie eine Chiffre für die Ausweglosigkeit, in die beide geraten sind, — durch ein Schicksal, das nach Janáčeks Auffassung Fügung und Verhängnis zugleich bedeutet und getragen und durchgestanden sein will in reinigendem Leiden.
Versucht man, den Gehalt der Oper in Worte zu fassen, so kann sich leicht der Eindruck einstellen, daß er allzustark ihrer uns ferngerückten Entstehungszeit und deren Anschauung von Kunst und Künstler verhaftet sei. Aber abgesehen davon, daß man kaum den Notschrei des Schöpfers dieser Oper überhören kann, dem es trotz der Verspieltheit des Schaffensanlasses bitter ernst war mit seinem verschlüsselten Selbstbekenntnis — abgesehen auch davon, daß der subjektive Schaffenstypus durchaus nicht zeitgebunden ist: Janáčeks Musik hat dafür gesorgt, daß das, was er aussagen wollte, auch dem kühleren und gefühlsärmeren Hörer von heute sehr vernehmlich wird. Je ungehemmter er sich in Wort und Geschehen und auch in der heißen Inbrunst seiner Musik vom eigenen Erleben befreite, desto strenger nahm er sich als gestaltender Musiker in Zucht. Es dürfte nicht viele gültige Werke des neueren Opernschaffens geben, die nach der musikarchitektonischen Seite so durchgeformt sind wie dieses „Schicksal", und von hier erhält Honolkas Vorgehen, einen Ring um das gesamte Handlungsgeschehen zu legen, noch eine zusätzliche Rechtfertigung. Janáčeks Prinzip, einer geschlossenen Szene jeweils ein musikalisches Motiv zuzugesellen und durch dessen Abwandlungen das Drama auszudeuten, ohne die musikalische Struktur zu zerstören (die Leitmotivtechnik verabscheute er gründlich), feiert hier Triumphe.
Die Eröffnungsszene, die Vorführung von Živnýs Opernbruchstück, ist auf einem einzigen liturgisch getönten Thema in Kanonform aufgebaut, das sowohl verschiedene Kontrapunktformen (vom Kanon der Quinte über den in Einklang und Oktave bis zum Kanon in organalen Quinten) wie auch eine Fülle von ausdrucksmäßigen Varianten durchläuft. Sie reichen vom Heulen des Gewittersturmes bis zum bebenden Erstarren und gipfeln in dem ergreifenden Abschiedsgesang Lenskys —, einer der inspiriertesten Einfalle Janáčeks und ein klassisches Beispiel für die eigentümliche Art seiner Orchesterbehandlung, die häufig die Klangmitte ausspart und höchste Höhe (hier Sologeige) mit tiefster Tiefe (hier Posaune, Tuba und tremolierende Kontrabässe) paart. Den Reichtum an melodischen und besonders rhythmischen Erfindungen und an faszinierenden Klangschattierungen zu schildern, ist unmöglich. Auch innerhalb von Janáčeks Schaffen gibt es kaum Gegenstücke zu Partien wie dem Tanz der Theaterchoristen (die parodistisch und in Verbindung mit dem Xylophon eingesetzte Orgel gibt ihm makabre Züge) — oder der Szene mit Milas Kind 2.
im
Prolog
zunächst scherzhaft zitiert und dann im 2. Akt ein rührendes Intermezzo innerhalb der erbitterten Auseinandersetzung der Eltern bildend — oder wie Živnýs Rückerinnerung an die erste Begegnung mit Mila, wo sich aus dem zarten Beginn (nur in Glockenspiel und Bratsche: „ihre Stimme war die einer Viola d'amour"!) ein Tongeflecht von unendlicher Süße entfaltet, oder wie dem Walzer, der, aus impressionistisch flimmernden Klangschleiern herauswachsend, die Eingangsszene des 1. Aktes beherrscht,
Immer ist noch mehr als die Erfindungskraft die strenge Formgestaltung zu bewundern, die bis in die Klangregistrierung hineinreicht, etwa wenn dem großen Liebesgesang von Anfang bis Ende zwei obligate Solobratschen beigegeben werden. Das Duett wird unterbrochen von einer heiteren Chorszene, in welcher der Freund des Bräutigams die Mädchen und Studenten zu einem Hochzeitsständchen animiert. Zunächst ist es ein aus dem Geiste des mährischen Volksliedes gezeugtes und die Tagseite des Festes charakterisierendes Chorlied. Wenn dann zu nächtlicher Stunde die jungen Leute zurückkommen und die Liebenden wieder in ihr Versteck zwingen, hat es seinen Charakter gewandelt: jetzt nur vom Orchester gebracht, gibt es die unwirkliche Atmosphäre der schwülen Augustnacht mit einem kleinen Marsch von Flöte und Geigenflageolets, Harfe und dissonierender Kindertrompete, leisen Akzenten von großer und kleiner Trommel außerordentlich suggestiv wieder. Dann aber verbindet sich mit ihm im Klang der Solobratschen die Hauptmelodie des Liebesduettes, Milas unsagbar schöner Abschiedsgesang, und in einer großen Steigerung schließen sich die verschiedenen Handlungselemente: das vor der Entscheidung stehende Paar, der heranschwankende Lampionzug der Jugend, die angstvoll suchende Mutter, der grimmig abseitsstehende Bräutigam — zu einem prachtvollen Finale zusammen.
In noch stärkerem Maße ist die Musik des 2. Aktes bei aller Affektgeladenheit gleichsam durchkonstruiert. Jeder Ton ist mit einer unheimlichen dramatischen Spannung geladen, aber alles ist geformt, gearbeitet, aufeinander bezogen, und weder für bloße Stimmungsmalerei noch für dramatische Wirkungen außerhalb der musikalischen Struktur ist Raum. Der Bogen als kennzeichnendes Formprinzip der Oper ist über den ganzen Akt gespannt, und wie das huschende und tastende Motiv der 1. Szene sich am Aktschluß angesichts der Katastrophe dröhnend entfaltet, nachdem in der Aktmitte Živný und Mila das „Fatum" in Klängen von schreckenerregender Größe beschworen hatten, dürfte zu den stärksten Zeugnissen musikdramatischer Gestaltungskraft gehören. An solchen Klängen müßte für jeden zu verspüren sein, daß Janáček nicht nur sich und den Menschen des Fin de siecle anrief, als er dieses Bekenntniswerk schuf und seinen Inhalt mit den Worten kennzeichnete: „Ihr sitzt auf morschem Geländer, obwohl unter euch ein reißender Wildbach fließt."
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1. Sie sind auf das sorgfältigste in der mehrteiligen Studie über „Osud" analysiert, die die Leiterin des Brünner Janáček-Alchivs, Dr. Theodorá Strakowa, soeben veröffentlicht und der fast alle hier mitgeteilten Fakten entstammen.
2. Diese Kinderszene dürfte die Keimzelle der Oper gewesen sein: Die naiv-altkluge Frage des Kindes „Weißt du, was Liebe ist?“ hörte Janáček von Frau Urválková an die Mutter richten, und er notierte sich sogleich den Tonfall, in dem sie gesprochen wurde (vgl. die Faksimile-Abbildung). Eine Zeitlang plante er auch, diese Frage der Oper als Titel zu geben
Fritz Oeser (Musica, XII, 1958, S. 586ff.)
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