Drei Großmeister in deutscher Sicht

Die Eigenständigkeit einer nationalen Musikkultur präsentiert sich nach außen nicht in Strömungen und Zielsetzungen, sondern in der Gipfelleistung geformter Werke. Jedes Volk hat das Recht und die Pflicht, seine Musiktradition als historisches Ganzes zu sehen. Längs- und Querschnitte durch die Geschichte lassen dabei die Fäden erkennen, die durch Jahrhunderte hindurch von Stamm zu Stamm, Volk zu Volk, Nation zu Nation geführt und die europäische Musikentwicklung zu einem ineinandergeflochtenen Komplex gemacht haben. So ist wichtig, daß wir in Deutschland (für andere Länder gilt das Gleiche) erfahren, wie sich innerhalb dieses Komplexes tschechische und später slowakische Musik entfaltet hat und wie sie sich selbst begreift. Es interessieren uns die heutigen Formen ihrer Ausübung, und wir müssen wissen, wie drüben das Erbe bewahrt wird und welche neuen schöpferischen Im­pulse es wachgerufen hat. Aber entscheidend für die Ausstrahlungskraft gewachsener Musik­kultur ist ihre Konzentration im schöpferischen Menschen, und so bedeutet die Begegnung mit der tschechoslowakischen Musik für uns zunächst: Begegnung mit Dvořák, mit Smetana, mit Janáček.

Die drei Namen in dieser Reihenfolge aufzuführen hat seinen Sinn, denn nicht Smetana (1824-1884) hat zuerst Kontakte über die deutsche Grenze hinweg gefunden, sondern der siebzehn Jahre jüngere Dvořák (1841-1904). Genau achtzig Jahre ist es her, daß Johannes Brahms seinen Verleger auf die „Klänge aus Mähren" aufmerksam machte, und bald danach begann bei Simrock mit diesen Duetten und den „Slawischen Tänzen" die lange Reihe Dvořákscher Werke zu erscheinen. Mit den beiden Titeln ist nicht nur der Anfang von Dvořáks Weltruhm verbunden, sondern auch die Etikettierung, unter der er wie die beiden anderen Großen der tschechischen Musik zu leiden hat: „Klänge aus Mähren"— das deutet auf „Heimatkunst", wie sie uns aus der Literatur und aus unserem bejam­mernswerten Film-Alltag geläufig ist, „Slawische Tänze " - das läßt an Polka-Komponisten mit höheren Ambitionen denken. Lexikonsreif lautet dann die Gütemarke: „Vertreter der tschechischen Folklore", „Böhmischer Musikant".
Mit solcher Kennzeichnung ist bei uns, denen sich das Musikganze schon lange in Kunstmusik und Unterhaltungsmusik aufgespalten hat, ein Komponist von vornherein degradiert, denn nur mit Anstrengung können wir uns darauf besinnen, daß der Strauss-Walzer auf seiner Ebene ein ebenso vollkommenes Kunstwerk ist wie die Beethoven-Symphonie. Das Etikett „Böhmische Musikanten" ist irreführend, weil es die Rangordnung der Kriterien verschiebt. Unzweifelhaft haben die drei Meister Kraft aus der Musikbegabtheit ihres Volkes gezogen und in stärkstem Maße bewußt und unbewußt aus dem reichen Reservoir des Volksliedes, Volkstanzes und des Sprachmelos geschöpft. Auch wurde ihre Schaffenskraft derart vom nationalen Selbstbewußtsein beflügelt, daß es von uns gar nicht nachgefühlt werden kann, — es sei denn, man versenkte sich in die leidvolle und leidenschaftdurchwühlte Geschichte ihres Volkes und vernehme, wie sie bei ihnen in unvergeßlichen Klängen laut wird. Nirgends sonst ist ja die Sehnsucht, in einem freien Volke Bruder unter Brüdern zu sein, ohne Worte so echt gültiger Klang, große Kunst geworden, wie in der tschechischen Musik, ob es sich nun um den Schluß von Janáčeks Sinfonietta handle oder um Dvořáks Ouvertüre „Hussitenlied" oder — dort am stärksten ausgeprägt und nie ohne Erschütterung wahrzunehmen — in Smetanas Zyklus „Mein Vaterland" von den ersten Harfenakkorden bis zur „Blanik“-Krönung.

Aber mag dies alles dem tschechischen Volk berechtigten Grund geben, den künstlerischen Geburtshelfern seines Nationalbewußtseins durch die Pflege ihrer Werke Treue und Dankbarkeit zu bezeugen: für den Hörer, der nicht in dieser außermusikalischen Verbundenheit steht, ist die nationale Verwurzelung dieser Meister irrelevant, ihre Musik erscheint ihm dadurch weder besser noch schlechter.

Der Rückgriff auf das Musiziergut des Volkes hat den glücklichen Zustand herbeigeführt, daß alle Schichten des tschechischen Volkes große Kunstmusik auch in komplizierten Formen als ihr eigen wiedererkennen konnten. Vom Repertoire des Straßensängers und Tanzgeigers führte eine Pyramide in lückenloser Stufung bis zum Musikdrama hinauf, — dies zu be­neiden hat jedes größere Volk Anlaß. Diese Einheit ist nicht einer romantischen Geisteshaltung zu verdanken, das beweist die junge slowakische Musik, in deren erst vor wenigen Jahren entstandenen prächtigen Opernwerken sich ebenfalls das Volk wiederfinden kann. Grundsätzlich aber gilt dies: genau so wenig, wie die patriotische Absicht ein künstlerisches Argument ist, genau so wenig ist die Verwurzelung in den Kunstäußerungen des Volkes ein Kriterium der künstlerischen Werthaltigkeit. Nicht der Willensantrieb und nicht der Musizierstoff, sondern was die gestalterische Kraft aus ihnen macht, bestimmt den Rang des Kunstwerkes. Diese simple Einsicht hat man auf die drei tschechischen Großmeister zu wenig angewandt. Was ihnen Quellgrund des Schaffens war, wirkt im Ausland als Reiz, —  als Reiz des Fremden, das zugleich heimelig anmutet. Exotisches Musikgut — Negro-Spirituals — gebrochen durch das Prisma eines ebenfalls „fremden" slawischen Musikantentums: das ist ein non plus ultra an Reizen und verbürgt als „Symphonie aus der neuen Welt" den Erfolg, veranlaßt aber andererseits die Reiz-Überdrüssigen, die Symphonie in die Gartenkonzerte zu verweisen. Beide Verhaltensweisen beruhen auf einem Mißverständnis, denn das Idiom einer Musik ist weder ein positives noch ein negatives Qualitätszeugnis. Eine Analyse folkloristischer Stilelemente bei Dvořák — bestimmter tanzgebundener Rhythmen, immer wiederkehrender melodischer Wendungen, gewisser harmonischer Folgen, allesamt scharf ausgeprägt und leicht zu identifizieren — vermag über die Gültigkeit dieser Musik gar nichts auszusagen. Auch die Wirkkraft der Brahmsschen Musik hängt nicht an ihren Sextenparallelen und die der Musik Bruckners nicht an ihren Mediant-Rückungen; wie schnell sich aber der Reiz eines bloßen folkloristischen Aufputzes verflüchtigt, hat die Kometenlaufbahn von Jaromir Weinbergers „Schwanda" bewiesen.

So ist für Dvořák viel bezeichnender seine mozartsche Fähigkeit, sich Fremdstile zu assimilieren, auf Anregungen von außen sofort anzusprechen und sie einzuschmelzen in seinen eigenen Musizierstil. Ob ihm bei der 6. Symphonie (D-dur op. 60, über die Zählung vgl. den Artikel Šoureks) die 2. Brahms-Symphonie als Muster diente oder beim „Dimitrij" Verdis „Aida", ob sich in der 7. Symphonie auch klanglich Brahmssche Elemente, in der „Rusalka" Wagnersche Technik bemerkbar machen, - in jedem Falle ist erstaunlich, wie das alles aufgesogen und hineinverwandelt wird in Dvořáks eigenes unverwechselbares Melos, seine reiche Harmonik, seinen immer blühenden und dabei durchsichtigen Orchesterklang. Hier ist eine enge Verwandtschaft mit Schubert zu verspüren, nicht nur in der melodischen Überfülle, sondern auch darin, daß bei beiden innerhalb eines lockeren Formgehäuses alles, was „gemeint" ist, als auch sinnenhafter Klang faßbar wird. Wie Schubert ist Dvořák als Mensch wie als Schaffender ein naiver Typus im Schillerschen Sinne: unreflexiv, mit Einfallen gesegnet, ohne Anstrengung schaffend und jeder musikalischen. Gattung hingegeben, — auch der Oper.

Von seiner praktischen Theatertätigkeit her (als Bratscher im Orchester) ist sein Sinn für die Erfordernisse der Bühne geschärfter als der Schuberts. Demzufolge sind ihm in jeder Opernform ausgezeichnete und wirkungsstarke Werke geglückt, von denen leider eines, das in der überquellenden Jugendfrische der Erfindung ein Seitenstück zur „Verkauften Braut" sein könnte („Der Bauer ein Schelm") an einem unzulänglichen Libretto scheitert. Was unseren deutschen Theatern an diesen Opern bislang entgangen ist, darüber wird an anderer Stelle berichtet (siehe Janáček "Schicksal"). Hier sei nur darauf hingewiesen, daß das Bild eines Komponisten erhebliche Verzerrungen aufzeigen muß, wenn der gattungsmäßig anspruchsvollste und qualitativ gewichtige Teil seines Schaffens unbekannt ist. Daran, daß ein Gipfelwerk, die große Oper „Dimitrij" — geschrieben zur Zeit seiner größten Ideenfülle und vollendetsten Formbeherrschung — erst jetzt nach 75 Jahren bei uns zu Gehör kommt, läßt sich ablesen, wie es um unser Recht bestellt ist, über Dvořák als Gesamterscheinung zu urteilen.

Erschwert wird ein solches Urteil auch dadurch, daß Dvořáks Schaffen keineswegs einheitlich ist. Nach der amerikanischen Reise tritt eine deutliche Wendung zur Neuromantik ein, die fast wie ein Bruch innerhalb der Kontinuität seiner Entwicklung wirkt. Sie führt seiner Musik eine Vielfalt neuer Farben („Rusalka"!) zu, lockert aber besonders in den symphonischen Dichtungen das Formgefüge und hat Dvořák in den Sog des Anti-Wagnerianisrnus der neueren Zeit geraten lassen. Außerdem schwand mit der Generation der großen Dirigenten, die ihn gefördert hatten (Richter, Bülow, Schuch, Mahler, Nikisch) auch die Kenntnis bedeutender Werke dahin. Vieles, was in den angelsächsischen Ländern erfolgreich war, ist bei uns nie recht bekannt geworden, — so das großartige Requiem, das unseres Wissens in den letzten zwanzig Jahren ganze vier Aufführungen in Deutschland erlebte.

Der Rückgang der Kammermusikpflege ist auch den schönen Dvořák-Werken zum Verhängnis geworden, das Fehlen von Studienpartituren der weniger bekannten Orchesterstücke und der kriegsbedingte Mangel an Aufführungsmaterialen haben verhindert, daß neue Generationen reproduzierender Künstler sich damit befassen konnten, — kurz, das Fazit ist: wir kennen Dvořáks Schaffen nur in einer Auswahl, die seiner wirklichen Bedeutung nicht gerecht wird, und was wir kennen, hat durch die Überakzentuierung der „Folklore" eine Fehldeutung erhalten.

In dieser Situation kommt die gesammelte Neuausgabe aller Werke Dvořáks gerade zur rechten Zeit. Ohne Zweifel wird sich seine Einschätzung ändern, wenn künftig neben die e-Moll-Symphonie die von Musizierfreude überströmenden und stilistisch reineren Sympho­nien in F-Dur und D-Dur treten werden, wenn sich ihnen die prachtvollen „Symphonischen Variationen" und die strenge Hussiten-Ouvertüre zugesellen, die beiden Streicher-Konzerte durch das Klavierkonzert ergänzt, das „Requiem" und die „Heilige Ludmila" vom ernsten Dvořák Zeugnis ablegen werden. Daß Urteile über sogenannte bleibende Werte korrigierbar sind, hat die G-Dur-Symphonie bewiesen, die, vor dem Kriege in Deutschland völlig unbekannt, heute an Aufführungsziffern der e-Moll-Symphonie kaum nachsteht. Dvořáks zweifelsfrei größtes, strengstes symphonisches Werk, die d-Moll-Symphonie, war ebenfalls fast vergessen und wird innerhalb eines Jahres in Westdeutschland von acht Orchestern gespielt, — es hat also den Anschein, als nahte die Zeit, in der wirklich der Versuch gewagt werden könnte, festzustellen, wer der „böhmische Musikant" war und was er uns gilt.

Auch von Smetanas Gesamtwerk beginnt jetzt eine Sammelausgabe zu erscheinen, und ein Blick auf ihre Gliederung zeigt, daß wir von einer Kenntnis Smetanas bei uns überhaupt nicht sprechen dürfen. Auch er hat den Welterfolg zweier Werke, der „Verkauften Braut" und der „Moldau", mit einer Verkennung seines Wesens und Wirkens bezahlen müssen. Der bei allem Frohmut ernste, zielbewußte und zu Reflektionen neigende Mann wird weithin als ein naiver Mensch mit lyrisch-kontemplativen Charakterzügen angesehen, als ein Idylliker, dessen dramatischer Atem über die Volksoper nicht hinausgereicht habe. Daran ist alles falsch. Die „Moldau" etwa als bloßes Klangidyll abstempeln kann nur, wer ihren Stellenwert innerhalb des ganzen Zyklus „Mein Vaterland" außer Acht läßt: nicht vom anfänglichen Wellenspiel her ist sie zu verstehen und zu gestalten, sondern von jener Stelle am Ende, wo das Naturgemälde seinen Ort im mythisch-historischen Geschehen erhält, wo mit dem Vysehrad-Thema die Brücke zum Anfang und Schluß des Zyklus geschlagen wird. Das Werk als romantische oder neuromantische Idylle einschätzen heißt den geistesverwandten „Witiko"-Roman Adalbert Stifters, diesen klassischen deutschen Lobpreis von Land und Volk des Vaters Čech, ebenfalls für eine romantische Idylle halten. Der Vorwurf neuromantischer, besonders Wagnerischer Beeinflussung, hat Smetanas Leben um so mehr vergällt, als seine Landsleute damit sein Lieblingswerk (und wahres chef d'cevre), den „Dalibor" treffen wollten. Dabei könnte man diese Oper eher Verdis „Maskenball" zuordnen, mit dem sie die unerhörte Musikfülle innerhalb des dramatischen Gesamtgefüges gemein hat. Schon Hanslick, der gewiß die Wagnerianer auf weite Entfernung witterte, hat die falsche Abstempelung des „Dalibor" als unzutreffend zurückgewiesen, aber sie erhält sich noch heute, und kaum jemand hat sich die Mühe gemacht, sie am Werke selbst nachzuprüfen. Gleich nach der „Verkauften Braut" entstanden, spiegelt „Dalibor" eine andre Welt, mit reicheren melodischen Einfallen, farbigerer Harmonik, durchsichtigerem und ausdrucksvollerem Orchesterklang.

Die Nachbarschaft allein dieser zwei Opern bezeugt, daß Smetana der geborene Dramatiker ist, der in menschlichen Gestalten denkt und schafft. Komik und Tragik in ganzer Tiefe und am liebsten in ihrer Verflechtung erfaßt. So wird der Jugendglanz, der über der „Verkauften Braut" liegt, nie verlöschen; aber der eigentliche Smetana der späteren hell-dunklen Komödien, ein Gestalter ersten Ranges und alles andere als ein „Musikant", ist noch gar nicht in unser Blickfeld getreten. Es sollte uns zu denken geben, daß Hans Richter erklärte, im 19. Jahrhundert sei keine zweite komische Oper geschrieben worden, die an die „Zwei Witwen" heranreiche, und daß das gleiche Werk eine Lieblingsoper von Richard Strauss war, die er bei jeder Pragreise auf den Spielplan zu setzen bat. Vollends „Das Geheimnis" ist ein herbstliches Gipfelwerk, dessen meisterhafte Faktur (etwa im großen Ensemble des 2. Aktes mit seiner realen Achtstimmigkeit) nur noch in Verdis „Falstaff" ein Gegenstück hat.

Geschrieben wurde es ebenso wie „Der Kuß" von einem völlig Ertaubten, der nie einen Ton davon gehört hat. Sein Dasein endete nach bitterer Melancholie in geistiger Umnachtung, und noch in ihr erschienen ihm „bei geschlossenen Türen lange Reihen von unbekannten und verschiedenartigen Gestalten", von deren wirklicher Existenz er überzeugt war. Ganz zuletzt noch wollte er Shakespeares Viola aus „Was ihr wollt" formen: „Ich selbst dachte nur deshalb daran, die „Viola" zu komponieren, weil ich hoffte, mit dieser Oper über die Grenzen der böhmischen Heimat hinaus zu gelangen. Aber 'jetzt habe ich keinen solchen Ehrgeiz mehr. . . Ich altere, und die Gewißheit, daß ich mein Gehör niemals wiedererhalten werde, nimmt mir jeden Ansporn, meinen Ruhm auszudehnen."

Ähnlich hatte Dvořák versucht, mit seiner letzten Oper „Armida" durch die Wahl eines Stoffes der Weltliteratur die Landesgrenzen zu überschreiten, ebenfalls erfolglos. In beiden Fällen waren die Sprachschranken hinderlich. Die Smetana-Gesamtausgabe könnte hier ebenso wie die Dvořák-Ausgabe einen Wandel herbeiführen, wenn ihre editionstechnisch überragende Leistung durch die Beigabe einer bühnenreifen Übersetzung für die Praxis fruchtbar gemacht würde. Im Zusammenhang mit den ausgezeichneten tschechischen Schallplattenaufnahmen würde damit der Weg für die Erschließung der Opern geebnet.

Freilich gibt es einen Entschuldigungsgrund dafür, daß Smetana bei uns und anderswo in solcher Verzerrung gesehen wird: es ist tief bedauerlich, daß sein Heimatland ihm bis zum heutigen Tag eine umfassende Darstellung schuldig geblieben ist, so daß die Möglichkeit einer Orientierung nirgends besteht.

Für Janáček (1854-1928) galt bis vor kurzem ähnliches, aber hier wird erfreulicherweise eine grundlegende  Biographie samt einer eingehenden Würdigung des Gesamtwerkes demnächst in deutscher Sprache erscheinen. Daß auch Janáček uns kaum bekannt ist, braucht nicht wunderzunehmen, denn er gehört als Spätgereifter unserer Epoche an, obwohl er nur dreizehn Jahre jünger war als Dvořák. An ihm zeigt sich am eindringlichsten, wie wenig Sinn es hat, Smetana, Dvořák und Janáček in einen anderen als den nationalen Zusammenhang zu bringen, — es wäre so, als wollte man Wagner, Bruckner und Brahms, also menschlich und schaffenstypologisch völlig verschiedene Meister, als geistig-stilistische Einheit begreifen. Es genügt, die Einleitungsfanfaren von Smetanas „Libuse" und die motivisch ähnlichen, gehaltlich aber ganz anders gearteten Eröffnungsfanfaren von Janáčeks Slawischer Messe hintereinander zu hören, um festzustellen, daß sich hier nicht nur ein starker Wandel innerhalb der tschechischen Musiktradition vollzogen und eine neue Stammessprache sich zu Wort gemeldet hat. Hier spricht auch eine eigene und eigenwillige Persönlichkeit, ein schöpferischer Mensch,  bei dem wieder zu unterscheiden ist zwischen dem Wurzelgrund seiner Musik, zu dem er sich immer bekannt hat, und dem, was seine gestalterische Kraft daraus gemacht hat. Daß Janáček seine musikalische Sprache aus der Alltagssprache gleichsam destillierte, ist als Hilfsmittel zum Beflügeln der Phantasie nicht unbedingt neu; auch von Smetana wird berichtet, er habe auf Spaziergängen seine Texte vor sich hingemurmelt, bis ihm aus dem Sprechtonfall der melodische Einfall kam. Janáčeks Methode der ars inveniendi ist deshalb über ihre ethnologische Seite hinaus bedeutsam, weil er in den Floskeln der täglichen Redeweise den sprechenden Menschen mit seiner Charaktereigenart und seinem Seelenzustand aufspürte. Auch Janáček war Dramatiker von Geblüt, der von Aufnotierung solcher Uräußerungen über ihre musikalische Gestaltung zur Darstellung des ganzen Menschen, und zwar des modernen Menschen, durchstieß. So fand und formte er einen unüberschaubaren Reichtum an rhythmischen und melodischen Tonsymbolen und erzielte eine Espressivität, die in den Spätwerken fast an Alban Berg heranführt.

Auch bei ihm verwehrt der Welterfolg seiner ersten gelungenen (Volks-) Oper „Jenufa" die Einsicht, daß man Janáček nicht von der Linie Smetana - Dvořák her in den Blick bekommt, sondern ihn eher mit dem anderen Volksliedsammler und schöpferischen Musiker Belá Bártok zusammensehen muß. Wie im „Schlauen Füchslein" die Natur geschaut wird, ist durchaus unromantisch, und es wäre ein Mißverständnis ersten Ranges, wenn man in diesem Lautweiden des großen Fan eine idyllische Märchenoper sehen wollte. Janáček hat mit einer nur ihm eigenen Art der Singstimmenbehandlung, mit einem ganz abseitigen Instrumentalklang in einer traditionsfreien Formgestaltung Töne angeschlagen, die man allenfalls in Strawinskys letzten kirchlichen Kompositionen wiederfindet, — besonders in der Slawischen Messe, die dankenswerterweise bei uns in diesem Jahr sowohl von Keilberth wieder wie auch von Eugen Jochum aufgeführt wird. Im Ganzen kann dieser eigenwüchsige und eigensinnige Mann wohl nur mit dem Phänomen Moussorgsky verglichen werden, dem er als handwerklicher Könner überlegen, in seinem slawischen Fühlen aber verwandt war. Denn Janáček war nach Wesen und Willen dem Osten zugeneigt, ein Geistesverwandter Dostojewskis, ihm ähnlich nicht nur durch sein bohrendes Eindringen in die Tiefen der menschlichen Seele, sondern auch in seiner großen Liebe zu den Leidgequälten und ausweglos Verlorenen. In ihm ist innerhalb der Tschechoslowakei nach Böhmen auch Mähren, das alte Durchzugsland zwischen Ost und West, mit eigener Weise zum Klingen gekommen.

Fritz Oeser (Musica, XI, 1957, S. 497-503)