Spätwerke großer Meister scheinen wie in einem Brennspiegel die Summe eines ganzen Lebens einzufangen. Unter ihnen zeigt Bruckners 9.Sinfonie besonders ergreifend, wie ein bisher Ungesagtes und kaum noch Sagbares nach Gestalt drängt, während sich doch die baldige Auflösung aller Gestalt schon im Werke ankündigt und schließlich seinen Abschluß verhindert. Viel stärker als bei Schuberts Unvollendeter, die mit gleichsam sorgloser Hand beiseite gelegt wurde, rührt hier der Bruchstück Charakter menschlichen Schaffens ans Herz, weil erst der Tod dem Ringen um die Vollendung Schranken setzte. Mit 63 Jahren hat Anton Bruckner (1824-1896) seine letzte Sinfonie begonnen und neun Jahre an ihr gearbeitet. Altersreife und Todesnähe haben ihr den geheimnisdunklen Grundklang gegeben, den Bruckner selber mit den Worten "Feierlich, Misterioso" über dem Anfang gekennzeichnet hat. Sowohl das Hauptthema wie besonders der entsetzensvolle Ausklang des riesigen I. Satzes scheinen zu verkünden, wie vor dem Mysterium tremendae majestatis, der, schreckenerregenden Majestät Gottes menschliches Sein zunichte wird. Damit verliert auch das Scherzo seinen früheren lebensfreudigen Charakter und erhält in den verzerrten Harmonien und dem unerbittlich pochenden Rhythmus Züge dämonischer Besessenheit, die im Trio einer seltsamen Schwerelosigkeit weichen. Ganz vom Einbruch neuer Erlebniswelten bestimmt ist das Adagio: Die Form löst sich in eine Reihe von Einzelgesichten auf - "Abschied vom Leben" und "Requiem" hat Bruckner einzelne Stellen benannt -, und wie das Hauptthema symbolisch von einer inbrünstigen Geigenklage zu leuchtenden Dreiklangshöhen aufsteigt, so mündet der ganze Satz nach furchtbarem Ausbruch ins verklärte E-dur. Der fragmentarische Werkschluß mit dem Adagio erschüttert seines Gleichnischarakters wegen immer aufs neue. Jedoch kann kein Zweifel bestehen, daß er weder in Bruckners Plan gelegen hat, noch in seinem Sinne ist. Für sein sinfonisch-architektonisches Empfinden mußte das Werk mit einem Finalsatz abschließen, dessen Ende dem erdrückenden Katastrophenausklang des I. Satzes die Waage halten und ihn überstrahlen konnte, und für den gläubigen Christen verstand es sich von selbst, daß sein letztes Werk nicht in Todesmystik, sondern als Lobgesang enden müsse. Als daher Bruckner nach zweijähriger mühsamer und krankheitsbehinderter Arbeit am 4. Satz erkennen mußte, daß er ihn nicht beenden würde, griff er den Gedanken auf, die Sinfonie mit dem Werk abschließen zu lassen, das nach seinem kindhaften Glauben ihn beim endzeitlichen Gericht "rechtfertigen" würde: mit dem „Tedeum“. Lag ihm der Gedanke, eine Chorsinfonie nach Art von Beethovens Neunter zu schreiben, auch völlig fern, so machte er sich doch daran, den in Partitur gebrachten Finaleteil als Überleitungsmusik einzurichten, die den Einsatz des Tedeums vorbereiten könnte. Fertig und bis auf wenige klangliche Lücken aufführungsreif war die gesamte Themenexposition. Ihr Anfang nimmt mit seinen fahlen Harmonien die gebrochenen Farben des Adagioschlusses wieder auf; mit einem gezacktem Rhythmus, der seltsam eintönig alles Folgende beherrscht, schlägt das Hauptthema den Bogen zum I. Satz zurück, und die entscheidende innere Wandlung geschieht durch den Einbruch eines großen Bläserchorals. In seinen glühenden Farben einer malerischen Vision Grünewalds gleichend, stellt er melodisch das Spiegelbild des Posaunenchorals im Tedeumschluß dar: "Tedeum" hat Bruckner ankündigend über seine letzten Takte geschrieben, und wenn er verhallt ist, läßt die Flöte leise die schwingende Quint-Oktav-Figur vernehmen, mit der nun in sinnvollem Anschluß das Chorwerk selbst brausend anheben kann: Alles mühevolle Ringen des Menschen um die Vollendung wird übertönt vom Lobpreis des dreieinigen Gottes, den das Weltall selber anzustimmen scheint, und aufgehoben in der Gewißheit des Endjubels: non confundar in aeternum.. Es wird für den Nichts-als-Musiker immer die Frage bleiben, ob ein d-moll-Werk in C-Dur, eine Sinfonie mit einem Chorwerk, das Zeugnis eines Altersstil mit einem um 20 Jahre jüngeren Opus schließen und ein Fragment zum Klingen kommen dürfe, das nur eine Notbrücke zwischen beiden Werken sein soll und kann. Wenn dies in der heutigen Aufführung doch geschieht, so nicht nur deshalb, weil das (erst vor 16 Jahren veröffentlichte und in Wiesbaden noch nie erklungene) Finalefragment unser Wissen um Bruckners Schaffen bereichern kann, oder weil ein Festkonzert am Jahresende und zu besonderem Anlaß dem gewöhnlichen Konzertbetrieb enthoben ist. Es soll vor allem Ernst gemacht werden mit dem Willen Bruckners, der solche Bedenken als zweitrangig erachtet hat. Sich um des tieferen Sinnzusammenhanges willen aller reinmusikalischen Einwände zu entschlagen, liegt ganz in der Lebenslinie eines Menschen, der in seinen letzten Lebenstagen die Feder aus der Hand legte, um sich nur noch dem Gebet zu widmen, und der wie seine großen Vorgänger im Mittelalter und Barock nur ein Ziel hatte: mit allem Tun und Schaffen der Gloria Dei zu dienen. Fritz Oeser 1940 |