Via Prag... ...So wagte ich auch hier den Alleingang, in dem Bewußtsein, daß mir wertvolle Persönlichkeiten als Gesprächspartner entgegentraten. Dieser Eindruck hat nicht getrogen. Die Verträge haben sich bewährt, die Hingabe an die Sache und die Achtung vor den Menschen, die sich ihr widmeten, haben eine echte Partnerschaft entstehen lassen. In jenen Monaten entschied es sich, daß der Bruckner-Verlag Wiesbaden, unter dem neuen Namen „Alkor-Edition" (Alkor ist die arabische Bezeichnung des Bärenreiter-Sterns) nach Kassel übersiedelte. Dadurch, daß er die Verbreitung der in der ganzen Welt geachteten Wiener Gesamtausgabe der Werke Bruckners besorgte und daß sich dieser nun die Prager Dvorak-Gesamtausgabe und sämtliche Smetana-Werke (alle mit bestem praktischem Auffürungsmaterial versehen) zugesellten, war plötzlich das bisher fehlende 19. Jahrhundert in meinen Verlagskatalogen vertreten. Dazu kam noch ein wirklicher Glücksfall: Mit dem Bruckner-Verlag kam Dr. Fritz Oeser in mein Haus. Als Kenner der Oper und des Schaffens von Bruckner, Dvořák und Smetana konnte er sich nun ausgiebig dem 19. Jahrhundert widmen, und der Werkbestand aus dieser Epoche wuchs, teils in der Alkor-Edition, teils im Bärenreiter-Verlag erscheinend, rasch an, vor allem auf dem Gebiete der Oper. Ein besonderer Markstein dieser Entwicklung ist die kritische Neuausgabe von Bizets „Carmen" (1965) . Sie brachte nicht nur einen Höhepunkt in der Zusammenarbeit mit dem großen Regisseur und hervorragenden Opernübersetzer Walter Felsenstein [link], dem begegnet zu sein zu den starken Eindrücken meines Lebens gehört. In ihr wurde vielmehr auch die musikwissenschaftliche Akribie unserer Gesamtausgaben zum ersten Mal auf ein Standardwerk des Repertoires angewandt; und das Ergebnis war, daß Theaterpraktiker wie Vertreter der internationalen Fachpresse erklärten, sie sahen Bizets Meisterwerk in einem ganz neuen Licht. [link] Ein weiterer Vertrag bezog 1957 die Opernwerke tschechoslowakischer Komponisten ein, und auch hier gestattete das vertrauensvolle Zusammenwirken mit dem Prager Betreuer dieses Sektors, Dr. Vojtech Strnad [link- Foto von 1958], eine Arbeit auf lange Sicht. Sie zeitigte fruchtbare Ergebnisse. In Dr. Kurt Honolka [link] wurde ein in doppeltem Wortsinn „sprachmächtiger" Übersetzer dieser Opern gefunden, und er gab im Laufe weniger Jahre vierzehn Bühnenwerken nicht nur der „Klassiker" Smetana, Dvořák, Janáček, sondern auch der jungen Komponisten der Tschechoslowakei eine neue deutschsprachige Gestalt. Ihre Krönung erfuhr diese Arbeit — sie verschaffte etwa Smetanas „Zwei Witwen" in drei Jahren mehr deutsche Aufführungen, als in den vorangegangenen siebzig Jahren zustande gekommen waren — durch einen neuerlichen Siegeszug der „Verkauften Braut": Ihre originalgetreue deutsche Neuübersetzung durch Kurt Honolka hat sich nun schonr achtzig Bühnen erobert. Für Smetanas „Dalibor" und Dvořák „Jacobiner" dürfte, wie für manche andere Opern, die Zeit erst noch kommen. Denn unsere Bühnen und unsere Musikkultur können die Befruchtung aus einem solch musikträchtigen Raum brauchen, und zum mindesten im Bereich der Kunst ist eine Koexistenz nicht nur möglich, sondern unerläßlich. Nur die Begegnung der Menschen, nur der Vergleich wissenschaftlicher Ergebnisse, nur der Austausch des künstlerischen Schaffens über alle Grenzen hinweg können uns davor bewahren, die Welt zu einem Zerrbild werden zu lassen. Auch die Musikwissenschaft hat hier ihre Aufgaben. Probleme, die uns die Geschichte aufgeladen hat, können am ehesten durch sachliche Forschung gelöst werden, wie sie in der Bundesrepublik etwa Walter Wiora, Walter Sahnen und Karl Michael Komma geleistet haben. Die Geschichte der Musik in einem Kernland Europas muß von der Musikwissenschaft heute frei von chauvinistischen und revanchistischen Tendenzen geschrieben werden. Dr. Oeser und ich sind inzwischen manches Mal in der Tschechoslowakei gewesen, zum „Prager Frühling" oder aus anderem Anlaß. Wir hatten viele gute Gespräche. Wir hatten noch die Freude, Otakar Šourek [link] kurz vor seinem Tode wiederzubegegnen, einem Manne, der, Friedrich Crysander vergleichbar, sein Leben der Erschließung von Dvořáks Leben und Schaffen gewidmet hatte, und wir sind einem der Verwalter seines Erbes, dem Dvořák-Forscher und Komponisten Jan Hanus [link], verbunden. Wir konnten das Prager Musikleben in seiner ganzen Breite genießen und verdanken vor allem dem hervorragenden Dirigenten Jaroslav Krombholc und den Sängern und Sängerinnen des Nationaltheaters unvergeßliche Opernabende. Immer wieder waren wir stark angerührt von der warmen menschlichen Atmosphäre, die, auch bei den Künstlern, frei ist von Starallüren und Arroganz. Es scheint uns, als habe die Musik in diesem Land „im Herzen Europas" (so heißt eine deutschsprachige Zeitschrift der CSSR) eine völlig andere Stellung als bei uns: ihre Kraft durchwirkt das Leben des ganzen Volkes. Müssen wir nicht ständig erfahren, wie sehr das Musikleben bei uns auseinanderfällt in große Einzelbereiche, die nichts miteinander zu tun haben wollen? Wen interessiert die Schulmusik außer jene, die sich unmittelbar mit ihr befassen? Die Entmusikalisierung des Lehrerstandes wirkt sich immer stärker aus. Wir haben keine Volksmusik in vollem Sinne des Wortes, nur Grüppchen da und dort. Im offiziellen Musikleben wächst beängstigend die Kluft zwischen der experimentierenden Avantgarde und der Masse des Konzertpublikums, für die Hindemith immer noch der Bürgerschreck ist. Im Musikleben der Tschechoslowakei hingegen fanden wir etwas, das uns verlorengegangen ist: lebendige Anteilnahme des Volkes und der Nation an der Musik von der Folklore bis zur großen Kunstmusik, auch am Schaffen der Gegenwart. Dr.hc Karl Vötterle (Gründer des Bärenreiter-Verlags Kassel) [link] |