Die Werke des slowakischen Komponisten Ján Cikker (1911–1989) wurden diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs aufgeführt. Der 20. Todestag bietet den Anlass zu einer neuen Betrachtung seines umfangreichen Opernschaffens. Opern voll humanistischen Ideals Vor zwanzig Jahren starb der slowakische Komponist Ján Cikker. In der Tschechoslowakei wie im westlichen Ausland hatte er bedeutende Erfolge gefeiert. Seine vierte Oper Auferstehung (Vzkriesenie, 1959–1961) nach Tolstoi wurde nach der Uraufführung in Prag 1962 in insgesamt 21 Neuproduktionen gespielt, davon allein neun in Westdeutschland einschließlich der Erstaufführung in Stuttgart 1964, einer hochgelobten Inszenierung Günter Rennerts [link]. In der Folge fanden seine Opern Das Spiel von Liebe und Tod (Hra o láske a smrti) nach Romain Rolland, Coriolanus nach Shakespeare und Das Urteil / Das Erdbeben in Chili (Rozsudok) nach Kleist im Ausland ebenso viel Beachtung wie in seiner Heimat – wenn nicht gar mehr. Cikker war damit vor seinen Landsleuten und Zeitgenossen Eugen Suchoň und Alexander Moyzes der international erfolgreichste slowakische Komponist. Seine Opern vertreten in packenden Sujets und schlagkräftiger musikalischer Gestaltung ein humanistisches Ideal, das im Osten wie im Westen Interesse fand. Und vielleicht auch irritierte, denn die westdeutsche Kritik rieb sich bisweilen, vor allem Anfang der 1970er-Jahre, an der ideologischen und ästhetischen Haltung seiner Opern, der christlich-idealistischen Aussage, der Beschwörung eines humanistischen Menschenbildes und einer – im Vergleich zu zeitgenössischen Werken wie Nonos Intolleranza oder Zimmermanns Soldaten – gemäßigten Tonsprache. Neuerdings findet jedoch eine Neubewertung statt, denn im Rückblick auf die Zeiten von Tauwetter und Prager Frühling mitsamt seinem gewaltsamen Ende 1968 stellt sich die Auswahl seiner Themen als ein letztlich unideologisches Bekenntnis zur Menschlichkeit dar, das in der Zeit seiner Entstehung keinesfalls selbstverständlich war. „Mister Scrooge” / „Abend, Nacht und Morgen” „Erlaube dir, den Menschen ohne Liebe zu behandeln, und es wird kein Ende der Greueltaten und Bestialität geben, wie ich sie in meiner Umgebung erkannt habe“ (Tolstoi) steht als Motto über Auferstehung. Seit der vorausgegangenen Oper Mister Scrooge (nach Charles Dickens’ A Christmas Carol, der Geschichte vom hartherzigen Geizhals, der sich in der Weihnachtsnacht zum mitfühlenden Menschen wandelt) handeln Cikkers Opern von einem Läuterungsprozess ihrer Protagonisten. Das Schicksal von Mister Scrooge jedoch brachte einen tiefen Einschnitt im Leben des Komponisten. Bei den Proben am Slowakischen Nationaltheater Bratislava 1959 wurde das Stück abgesetzt. Cikker zog auf dem Kongress des slowakischen Komponistenverbandes im Dezember des Jahres „ideologische Kritik“ auf sich und wurde in der Folge gesellschaftlich und künstlerisch isoliert. Verbunden mit einer Krankheit waren die folgenden zwei Jahre der Arbeit an der Oper Auferstehung eine Zeit der tiefen Krise und Neuorientierung – ein „Starten gegen den Wind”, wie Detlef Gojowy es nennt, ein „keinesfalls selbstverständliches und konfliktfreies Vorhaben”. Mister Scrooge wurde erst 1963 unter dem Titel Abend, Nacht und Morgen in Kassel uraufgeführt. „Auferstehung” Auferstehung erzählt die Geschichte des Dienstmädchens Katuscha, das mehrfach zum Opfer wird. Der junge Fürst Nechludow verführt sie kurz vor seinem Aufbruch in den Krieg auf dem Landgut seiner Tanten. Sie wird schwanger und des Hauses verwiesen, nachdem ihr Kind gestorben ist. Einige Jahre später wird sie als Prostituierte unschuldig des Giftmordes an einem Bordellbesucher bezichtigt. In ihrem Prozess wird Nechludow durch Zufall als Geschworener berufen. Er erkennt seine Schuld an ihrem Schicksal, ist aber zu schwach, ihre Verurteilung abzuwenden. Als sie zu Zwangsarbeit nach Sibirien verbannt wird, gibt er sein mondänes Leben auf und will ihr folgen. Sie weist seine Angebote jedoch verbittert zurück. Erst als er der sterbenden Katuscha die Nachricht von ihrer Begnadigung bringt, finden sie zueinander. Das Motiv der Auferstehung wird auf mehreren Ebenen thematisiert: von dem Osterkuss am Anfang bis zur moralischen Läuterung beider Protagonisten, der Wiedererstehung ihrer Liebe und schließlich dem Tod und der Verklärung der Katuscha. Auf die Frage: „Ist sie tot?” antwortet Nechludow am Schluss: „Nein, sie ist auferstanden.” Cikker konzentriert die sozialkritische Romanvorlage auf die psychische Entwicklung und den Konflikt der Hauptfiguren und konterkariert diesen mit scharfen Situationsschilderungen wie der absurden Gerichtsverhandlung oder der grellen Bordellszene mit furiosem Cancan. Mit dem selbst erarbeiteten Libretto (unter Mitarbeit von Fritz Oeser unter dem Pseudonym Paul Friedrich und Verseinlagen von Ján Srmek) realisierte Cikker eine eigene Form der Literaturoper, die eine mehrschichtige Handlung in einer abgründigen Simultaneität ermöglicht. Der innere Monolog der Protagonisten wird in autarken Intermezzi filmartig fokussiert. Im ersten fantasiert Katuscha in einer Art Fieberwahn die vergangenen Ereignisse, im zweiten rekapituliert Nechludow die Gerichtsverhandlung und übernimmt die Verantwortung für Katuschas Verfall, im dritten überkreuzen sich beide Bewusstseinsprozesse in ihrer Bewegung aufeinander zu. In einer polytonalen Musiksprache ist das tragische Sujet mit dramaturgisch wirkungsvollen Griffen höchst suggestiv in Szene gesetzt, etwa wenn Cikker die Gerichtsszene verschärft, indem er die Personen sprechen lässt, oder schließlich die Trostlosigkeit des Gefängnislagers im dritten Akt mit quasi-sakralen Chören zu einer Botschaft der Erlösung umdeutet. Der Operntod der Katuscha zählte für Fritz Oeser (wie er an den Komponisten schrieb - siehe hier) zu den wirkungsvollsten der Musikgeschichte. Musikalisch verwirklicht Cikker die Verklärung am Schluss im Rückgriff auf die Musik der unbeschwerten Unschuld der jungen Katuscha. Auferstehung war ein einhelliger Erfolg und brachte Cikker den internationalen Durchbruch, der dazu führte, dass seine folgenden Opern jeweils in mehreren Städten gespielt wurden. So hatte "Das Spiel von Liebe und Tod" 1969 bei den Münchner Opernfestspielen seine Uraufführung und wurde im gleichen Jahr in Wuppertal gespielt, 1970 in Stockholm, 1971 in Bern und (erst) 1973 in Bratislava. Coriolanus wurde 1974 in Prag uraufgeführt und in Mannheim gespielt, 1977 in Weimar. „Das Urteil" „Alles was die Einbildungskraft sich Schreckliches vorstellen kann, muss man zusammen nehmen, um das Entsetzen einigermaßen vorzubilden, darin sich die Menschen befinden müssen, wenn die Erde unter ihren Füßen sich bewegt”, schrieb Kant 1755. Eine solche Geschichte müsse, „weil sie eine Wirkung auf das Herz hat, vielleicht auch eine auf die Besserung desselben haben können”. Kleists Erdbeben in Chili schildert in der Tat Entsetzliches, den Lynchmord an einem jungen Paar im Jahr 1647, das in einem Klostergarten ein Kind gezeugt hat, verurteilt wird und durch das Erdbeben in Santiago de Chile zunächst vom Scheiterhaufen bzw. Kerker befreit wird, schließlich aber doch dem fanatischen Volkeszorn nicht entgehen kann. Cikker formt in Das Urteil (1979) aus Kleists Erzählung ein ebenso straffes wie wechselvolles Genrebild mit explosiven Volksszenen und lyrischen Einschüben. Der Humanitätsappell des Einakters steht in konsequenter Folge der vorausgegangenen Opern, die allesamt Tragödien sind. „Das Spiel von Liebe und Tod” Mit Das Spiel von Liebe und Tod nimmt Cikker eine Hinwendung zu noch deutlicher politisch akzentuierten Themen vor. Die Oper vergegenwärtigt die Jakobinertyrannei unter Robespierre in einem konzentrierten Kammerspiel. Romain Rollands Drama schildert die fatalen Geschehnisse im Hause des Wissenschaftlers Jérôme de Courvoisier. Der Gelehrte ist Mitglied des Konvents und hat als Einziger der Verurteilung Dantons nicht zugestimmt, wird damit also zum Verfolgten. Seine Frau Sophie liebt den Girondisten Vallée, der bei ihr Zuflucht sucht. Unter dem Ansturm der Schergen jedoch entscheidet sie sich gegen eine Flucht mit dem Geliebten und für den Opfertod mit ihrem Mann. Ihr Untergang wird zum Appell exemplarischen menschlichen Leidens und zur Überhöhung moralischer Werte. In der Dramaturgie der Oper arbeitet Cikker wiederum mit mehreren Schichten. Während das Spiel auf der Bühne auf eine konzentrierte Dreiecksgeschichte zugespitzt ist, sind die zeitgeschichtlichen Zustände simultan in Chören, Bühnenmusiken und Filmprojektionen präsent. Musikalisch geht Cikker zu einer Zwölftönigkeit und Polytonalität über und schließt tonale Passagen ganz aus, die es noch in Auferstehung gab. „Coriolanus” „Eine Tragödie ohne Gnade, ohne einen Schimmer Hoffnung” war für Cikker Shakespeares Coriolanus, den er als Stoff für seine sechste Oper wählte. Der zwiespältige Held Coriolan, Despot, Volksfeind, Verräter, „ein durch Hass bis zum Verrat gejagter Feldherr”, wird von Cikker in seiner Entwicklung „in einen komplizierten, Gnade suchenden Menschen unseres Zeitalters” dargestellt. Seine Oper spitzt den Konflikt auf das Gegeneinander von Masse und Einzelnem zu und stellt das „pausenlose Ringen um die Macht und gegen die Machtergreifer” (Cikker) als Leitmotiv der Geschichte in seiner „unheilvollen Aktualität” in den Vordergrund. Vierzehn Bilder erzählen diesen Konflikt in teils grellen Farben und scharfen Kontrasten, in rasanten Chorszenen und Schlachtenmusiken, denen verinnerlichte Zwischenmusiken und expressiv lyrische Soloteile gegenübergestellt sind. „Aus dem Leben der Insekten” Cikker beschloss sein Opernschaffen 1986 mit einer absurden Komödie – der einzigen in seinem Œuvre: Mit Aus dem Leben der Insekten (Zo života hmyzu) schrieben die Brüder Èapek 1921 eine Fabel über die Gefahr totalitärer Herrschaft. Der Gang eines Landstreichers durch die Insektenwelt endet in einem unerbittlichen Ameisenstaat. Drei Jahre vor dem Ende der sozialistischen Systeme mutet Cikkers Oper über den ehemals prophetischen Stoff wie ein Abgesang an. |