24.11.1965 Spiegel Artikel zur Neuausgabe der Oper "Carmen" von Georges Bizet He, Gevatter Carmen" ist nicht "Carmen": Georges Bizets Oper von der Liebe eines Soldaten zu einer spanischen Zigarettendreherin, seit 90 Jahren nahezu 100 000mal gespielt, wurde meist verfälscht gegeben. Denn gleich nach den ersten Aufführungen in der Pariser Opéra-Comique (Besucher Friedrich Nietzsche spürte "Eros, wie die Alten ihn empfanden, verführerisch spielend boshaft dämonisch unbezwinglich") wurde das ursprünglich aggressiv-sozialkritische Musikwerk durch Streichungen und Einfügungen entstellt - das dokumentiert jetzt der deutsche Musikwissenschaftler Dr. Fritz Oeser, 54, im Bericht zur ersten kritischen Partiturausgabe der Bizet-Oper. Er entdeckte eine "entschlackte, 'Carmen', federnd, schlagkräftig, das Meisterwerk, das man erahnte" ("Die Welt"). Zur "Carmen"-Restaurierung angeregt wurde Oeser bereits vor sieben Jahren in Gesprächen mit Walter Felsenstein, dem Intendanten der Ost-Berliner Komischen Oper. Felsenstein, der seit zwei Jahrzehnten das Musiktheater mit realistischen Inszenierungen und eigenen Textbearbeitungen erneuert, war schon lange auf der Fährte der Ur-"Carmen". Sie führte in die Archive der Opéra-Comique nach Paris. Dort entdeckte Oeser - Geschäftsführer der mit dem Bärenreiter-Verlag liierten Kasseler "Alkor"-Edition - das als verschollen gemeldete Notenmaterial der "Carmen"-Uraufführung. In den teilweise zugeklebten, zugenähten und von Musikern mit unzüchtigen Zeichnungen verzierten "Carmen"-Stimmen fanden sich Partien, die aus Bizets handschriftlicher Partitur getilgt worden waren - Striche, mit denen die Charaktere der Hauptfiguren versimpelt wurden. [link] So sollte sich beispielsweise nach dem Willen Bizets die erste Begegnung zwischen Carmen und ihrem Liebhaber Don Jose bei dramatischer Schicksalsmusik abspielen - Töne, mit denen der Komponist die erotische Hörigkeit des Sergeanten Don José signalisierte. Doch das Signal wurde gestrichen. Ein eingefügter Text verharmlost die Situation. Sagt Carmen: "He, Gevatter, was machst du denn da?" Ähnlich sinnentstellend und dem kulinarischen Operngeschmack des Fin-de-siécle-Bürgertums gemäß griff der Bizet-Freund und Komponist Ernest Guiraud ins Operngeschehen ein. Er tauschte Bizets realistisch-nüchterne Dialoge gegen wortfarbige Rezitative aus und fügte Ballettnummern aus zwei anderen Bizet-Werken ein. Völlig unkenntlich wurde das Original schließlich durch die erste, bis heute gebräuchliche deutsche Übersetzung eines Julius Hopp, der den gesamten Operntext biedermeierlich verniedlichte. Oeser: "Der konnte nur 'treues Herz' auf 'süßen Schmerz' reimen oder solche einfältigen Wortverbindungen wie 'zart und fein - sein Leben weihn' produzieren." Derlei Lyrik wird in der "Carmen"-Neufassung durch eine wortgetreue und nüchterne Textübertragung von Felsenstein ersetzt. Nach Felsensteins neuem Text und Bizets renovierter Partitur setzten und setzen ambitionierte Regisseure von zehn west- und ostdeutschen Bühnen (unter anderen Bremen und Kiel, Mannheim und Lübeck, Weimar und Potsdam) "Carmen"-Aufführungen in Szene. Friedrich Petzold, Regisseur einer Original-"Carmen" in Kiel: "Bizets Urfassung ist einfach die beste. Daran ist jetzt nicht mehr zu rütteln." Doch das Beste ist nicht gut genug für Herbert von Karajan: Bei den kommenden Salzburger Festspielen dirigiert und inszeniert er, unbekümmert um neue Forschungsergebnisse, die alte "Carmen. |