Die Erstaufnahme des Finale-Fragments der
9. Sinfonie von Anton Bruckner


Text im Begleittext der CD, herausgegeben vom Deutschen Rundfunkarchiv, Frankfurt [link]

"Nun widme ich der Majestät aller Majestäten, dem lieben Gott, mein letztes Werk, und hoffe, daß er mir noch so viel Zeit gönnen wird, es zu vollenden und meine Gabe gnädig aufnimmt."

So soll sich Anton Bruckner gegenüber seinem letzten Arzt, Dr. Richard Heller, geäußert haben. Bruckners Hoffnung erfüllte sich nicht. Er starb am Nachmittag des 11. Oktober 1896 im Alter von 72 Jahren, ohne sein letztes Werk – die Sinfonie Nr. 9 in d-Moll – vollendet zu haben. Die ersten drei Sätze der Sinfonie waren weitestgehend ausgearbeitet. Es fehlte nur die endgültige Gesamtredaktion, mit der Bruckner seine Arbeiten abzuschließen pflegte. Das Finale blieb Fragment.

Wie weit die Arbeiten am Finale zum Zeitpunkt von Bruckners Tod fortgeschritten waren, läßt sich im einzelnen nicht mehr nachvollziehen, denn offensichtlich sind wertvolle Handschriften abhanden gekommen. Die Nachricht von Bruckners Tod verbreitete sich rasch in Wien. Richard Heller berichtet, daß sich sofort "Befugte und Unbefugte wie Geier auf seinen Nachlaß" gestürzt hätten. Leider wurde es versäumt, Bruckners Wohnung im "Kustoden-Stöckl" des Schlosses Belvedere rechtzeitig zu versiegeln. Darum konnten zahlreiche Manuskripte entwendet werden. Einige von ihnen tauchten im Laufe der Zeit wieder auf, andere müssen weiterhin als verschollen gelten. Die überlieferten Manuskripte zur 9. Sinfonie befinden sich heute in sieben verschiedenen Bibliotheken und im Privatbesitz.

Von den geschätzten 700 Takten, die das vollendete Finale wahrscheinlich umfaßt hätte, sind rund 500 in verschiedenen Entwurfsstadien überliefert: 172 Takte sind vollständig orchestriert, 200 weitere sind teilweise instrumentiert, d.h. der Streichersatz ist vollständig notiert sowie die Stimmen von führenden Instrumenten. Die "erste Abteilung", also die Exposition des Finales, konnte Bruckner noch weitgehend vollenden. Die übrigen Formteile sind bis zum dritten Thema in der Reprise unvollständig ausgearbeitet, dann reißt die Komposition ab. Der Schluß des Finales fehlt gänzlich. Allerdings wissen wir, daß Bruckner eine genaue Vorstellung davon gehabt hat, wie die Sinfonie enden sollte. Richard Heller berichtet, Brucker habe vorgehabt, "das Allelujah des zweiten Satzes mit aller Macht wieder im Finale zu bringen, damit die Sinfonie mit einem Lob und Preislied an den lieben Gott endet. Und dann setzte er sich ans Klavier und spielte mir mit zitternden Händen, aber richtig und mit voller Kraft, Partien daraus vor. Oftmals habe ich bedauert, musikalisch nicht soweit gebildet zu sein, um einmal Gehörtes wiederspielen oder niederschreiben zu können, denn dann wäre es mir möglich gewesen, vielleicht den Schluß der neunten Sinfonie zu skizzieren."

Die 9. Sinfonie erschien erstmals im Jahre 1934 im Rahmen der Bruckner-Gesamtausgabe. Seitdem wurden immer wieder Versuche unternommen, die überlieferten Teile des Finales in eine spielbare Fassung zu bringen oder sogar zu vollenden. Den Beginn machte Elke Krüger. Sie richtete die Fragmente bereits 1934 für zwei Klaviere ein. Im Jahre 1940 legte Fritz Oeser eine aufführungspraktische Einrichtung der beinahe vollständig instrumentierten Exposition des Finales für Orchester vor. In dieser Form gelangte das Finale von Bruckners 9. Sinfonie am 12. Oktober 1940 erstmals zur Aufführung. Hans Weisbach leitete das Orchester des Reichssenders Leipzig. Das
Fragment des Finales stand am Beginn des Konzerts, danach folgten die vollendeten Sätze der 9. Sinfonie von Bruckner. Im Zusammenhang mit dieser Aufführung machte der Reichssender Leipzig eine Versuchsaufnahme von der Exposition des Finales. Das Ergebnis wurde auf zwei Schellackplatten festgehalten. Leider ist die erste der beiden Platten verschollen. Auf der zweiten Platte befindet sich das älteste Klangdokument, das vom Finale der 9. Sinfonie von Anton Bruckner überliefert ist.

Bis dato sind über zwanzig Bearbeitungen des Finales von Bruckners 9. Sinfonie vorgelegt worden. Die wenigsten davon konnten sich im Konzertleben durchsetzen. Sofern man das Finale überhaupt spielt, greift man heute meistens auf die Fassung von William Carragan (1984) oder auf die Bearbeitung der Autorengemeinschaft Nicola Samale, John Alan Phillips, Giuseppe Mazzuca, Benjamin Gunnar Cohrs (1996ff) zurück. Auch heutzutage enden noch die meisten Aufführungen der 9. Sinfonie mit dem dritten Satz - entgegen Bruckners ausdrücklichem Willen. Er hatte verfügt, daß man sein 1884 vollendetes Te Deum als vierten Satz spielen soll, falls er das instrumentale Finale nicht mehr vollenden könne.

Jörg Wyrschowy
Deutsches Rundfunkarchiv
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